EnzyklopÄdie der Fremdheit

Ulrike Seitz deponiert ihre Botschaften nicht nur in erzählenden Bildergeschichten. Auch in einzelnen Zeichnungen liegt die Crux im Detail. Der Scherenschnitt ›Mann mit Hut‹ (Abb.2, linke Spalte unten) kann nach Belieben angezogen und ausstaffiert werden, schneidet man die Figur und die Accessoires penibel genau aus. Dieses Prinzip ist besonders beliebt als Zeitvertreib in Kinderzeitschriften. Bei genauem Hinschauen fällt jedoch der linke amputierte Arm des Mannes ins Auge. Außer einer Armprothese kann sehr praktisch zwischen einem Hammer-, einem Haken- und einem Spatelarm gewählt werden. Falls die Behinderung der Spielfigur in Gesellschaft der Spielkameraden mal nicht ganz offensichtlich sein soll, stellt die Künstlerin dem Nutzer auch noch einen Handschuh zum Verbergen zur Seite. Ihre Diplomarbeit in der Fachklasse für Illustration bei Prof. Thomas M. Müller an der HGB widmete sie 2009 der Jagd. Aus der Idee für eine Zeitung für den kultivierten Jägersmann wurde letztendlich ein mit Siebdruck in Handarbeit angefertigtes Buch, das sich in seinem Aufbau an den üblichen Rubriken von Magazinen orientiert. Die Jägerzeitschrift markiert den Beginn einer ganzen Reihe von bibliophilen Arbeiten zu Paralleluniversen als sozialen Phänomenen mitten in unserer Gesellschaft. Es ist der erste Band einer ganzen Enzyklopädie der Fremdheit, welche die Künstlerin zukünftig realisieren möchte.

Die einzelnen Rubriken des Buches setzten sich aus entlehnten Texten und dazu passenden Bildern zusammen. Die Themen reichen dabei von Ratschlägen zur nötigen Fitness des Jägers über fingierte Werbung bis hin zur Anleitung zum Trophäenbau (Abb.3, diese Spalte) oder Notenblätter mit entsprechenden Jagdsignalen für das Waldhorn. Biologische Hinweise zu den Drüsen bei Reh und Hirsch finden genauso ihren Platz wie nützliche Kochrezepte, Tipps zur Identifizierung von giftigen Pilzen oder Hinweise zum vierbeinigen Gefährten. Als Quellen dienten der Künstlerin Sachbücher zum Thema, Anekdotensammlungen, und ›Liebhaberliteratur‹, welche die Biologie des Waldes, Vogelstimmen oder technische Fragen der Jagd ansprechen. Zeitlich umfassen die gesammelten Beiträge die Spanne vom 17. Jahrhundert bis hinein in die 1990er Jahre. In der Zeitung für den kultivierten Jägersmann finden sich insgesamt Originaltexte aus zwölf Publikationen, darunter auch ein Gesangbuch, dessen Lieder sogar auf einer angehefteten Schallplatte vertont wurden.

das Buch als komplexes, narratives Medium

Die Texte übernahm die Künstlerin meist in der originalen Typografie, im Ausnahmefall setzte sie den überlieferten Text in Eigenregie neu. Die Federzeichnungen illustrieren den Text, falls beide Elemente aufeinander treffen; können aber auch ganz ohne Worte bestehen. Als Kernstück des Buches sieht Ulrike Seitz ihre eigens entworfene »Lidl Produktwerbung«, die als vermeintlich kommerzielle Rubrik des Buches selbst entworfene Gegenstände an den Jäger bringen soll. Jedes Objekt ist inspiriert von realen Produkten und verfügt über einen eigenen, klangvollen Namen. Die verwendete Sprache nähert sich den Slogans der Werbebranche an, sodass der entstehende Wortwitz im Zusammenhang mit den skurrilen Angeboten erst die implizite Ironie produziert, die sich als typisch für die Arbeiten von Ulrike Seitz erweist. Eine weitere Doppelseite thematisiert die »Faszination Lockjagd« mit einem originalen Sachtext und drei gezeichneten Lehrkassetten sowie verschiedenen Modellen von Lockflöten. Die Kassetten tragen so klangvolle Namen wie »Rufen und Reizen«. Die leise Ahnung des tatsächlichen Bezugs zu realem Jagdzubehör entfacht dabei ein gewisses Unverständnis beim Leser. Ein Gefühl für das Fremde, den Unterschied und das Absurde bricht sich von Kapitel zu Kapitel progressiv bahn. Nicht zuletzt das Augenmerk der Künstlerin auf das Buch als komplexes, narratives Medium und die liebevolle Gestaltung der vermeintlichen Nebensächlichkeiten wie Einband, Schmutzblatt und Schutzumschlag machen die Zeitung für den kultivierten Jägersmann zu einem seltenen Buchkunstwerk, abseits von industrieller Massenproduktion. Man darf gespannt sein, mit welchem Gebiet sich der nächste Band der Serie beschäftigen wird.

Künstlerbücher von Ulrike Seitz
Das Magazin für den kultivierten Jägersmann
Leipzig 2009, 48 Seiten, s/w,
Auflage: 6 Stück, 30 x 38cm,
Siebdruck, Fadenheftung mit Gewebeeinband, farbiger Schutzumschlag, Siebdruck 2-farbig,
Preis auf Anfrage.

Le Journal de Zahnfäule et Fjurie
Leipzig 2006, 8 Seiten, farbig,
Auflage: 15 Stück, 29,7 x 42 cm,
Siebdruck (auf Plano Jet 160 gm²), Schweizer Broschur mit Japanischer Bindung, Siebdruck 3-farbig,
Preis auf Anfrage.

Mehr Informationen unter: http://ulrikeseitzillustration.blogspot.com


Alle Abbildungen © Ulrike Seitz.

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