DIE WELT ALS WUNDERKAMMER
MILIEUSTUDIEN VON ULRIKE SEITZ
von Kathrin Tobias
Sammelten im 17. Jahrhundert die Landesfürsten und feudalen Herrscher in so genannten Wunderkammern Schätze, Kunst, Kuriositäten und wissenschaftliche Gegenstände ihrer Zeit, so sammelt die diplomierte Grafikdesignerin Ulrike Seitz heute Beobachtungen aus sozial abgeschotteten Milieus und speziellen Umgebungen. Die junge Künstlerin, deren Arbeiten bereits in DAS MAGAZIN (Abb.1, diese Spalte) und der lettischen Comicanthologie Kuš! abgedruckt und deutschlandweit ausgestellt wurden, blickt vor allem auf Subkulturen oder besondere Personengruppen, um neue Inspiration für ihre Zeichnungen zu finden. Ihre Arbeiten umfassen immer mehrere Deutungsebenen. Sowohl eine ganz private Lesart als auch das Einbinden der Situation in einen größeren gesellschaftlichen Zusammenhang ist möglich. Sie bewegt sich dabei als außen stehende Beobachterin auf ihre Gegenstände zu ohne ganz in die fremd anmutende Welt einzutauchen.
Das Staunen und Wundern über das Fremde wird in ihren Geschichten ebenso thematisiert wie die nur implizit anklingende Wahrnehmung von Differenz. Jedoch sieht sie auch Parallelen zu ihrem eigenen Erleben. Die Künstlerin meint dazu: »Ich fühle mich in die Situationen meiner Charaktere ein, zumal sie einen Teil meiner eigenen Fremdheit in der Gesellschaft widerspiegeln. Die Beschäftigung mit meinen Figuren entsteht aus einer Art Verwandtschaftsgefühl. Die Identifikation mit ihnen steht für die Absurdität des Lebens per se, daraus entwickle ich dann meine Realsatire. Die auf ihre Art niedlichen Figuren bilden dann natürlich einen scharfen Kontrast zur bissigen Aussage.«.
Flucht aus der Tristesse
Ulrike Seitz, 1982 geboren und aufgewachsen in Berlin, interessiert sich für das kleinbürgerliche Umfeld, Dauercamper, Jäger oder schutzlose Nacktschnecken unter einer Horde von Laufenten. Die Wurzeln ihres Humors finden sich in den einschlägigen Satiremagazinen der Nachkriegszeit. Ihre vielschichtigen Figuren bewegen sich in Nischen der heutigen Konsumgesellschaft, sie sind vom Leben abgetrieben worden und wirken nun seltsam rückständig und obskur. Anstatt sich jedoch ausgeliefert zu fühlen und zu resignieren, ziehen sich ihre Protagonisten in ihre eigene Welt zurück und entwickeln in den jeweiligen Kontexten ohne viel Zutun ein großes komödiantisches Potential. Gewissermaßen untersuchen die Arbeiten der Künstlerin Möglichkeiten sich aus dem fremdbestimmten Alltag zu entziehen. Durch die künstlerische Arbeit werden jedoch die sozialen Verhältnisse, welche der Zeichnerin als Vorbild dienten, aus ihrer Realität entfremdet. Der Humor der Künstlerin lebt von der kleinen Lücke zwischen dem Leben selbst und ihren Zeichnungen. Sie macht den Betrachter dadurch auf die Eigenheiten des realen Milieus aufmerksam, welches für die Zeichnungen Modell gestanden hat. Ulrike Seitz findet die Vorbilder ihrer bildlichen Erzählungen beispielsweise in Schrebergärten oder auf Rummelplätzen (Abb.5, rechte Spalte unten, Ausschnitt). Diese Orte verfügen über eine ganz eigene gesellschaftliche Konnotation. Dort gelten implizite Verhaltenskodexe und die Vorstellung einer heilen Idylle wird mittels blühender Natur und konfliktfreiem Vergnügen transportiert. Die Schrebergartenkolonie verkörpert für Ulrike Seitz die Flucht aus der Tristesse der Städte und des beengenden Alltags generell. In den Gärten herrschen jedoch auch Regeln, geschrieben und ungeschrieben, auf deren Einhaltung die Gemeinschaft penibel achtet. Der Rummel ist ein Platz der Kindheit und ein Ort der kurzweiligen Unterhaltung. Für Kinder kommt die bunte, laute Glitzerwelt des Rummels einem Paralleluniversum gleich, das die Wirklichkeit auszublenden vermag. Die Künstlerin versteht den Rummel aber vor allem als Ort des Eskapismus des kleinen Mannes. Beide Lokalitäten sollen den Realitätsverlust forcieren und für einige Zeit den Eintritt in eine andere, angenehmere Welt ermöglichen.
Der Strich ist locker und suggestiv
Die Schilderungen von Ulrike Seitz verlassen die tatsächlichen Erfahrungen und Vorstellungen der Betrachter dabei nur unmerklich. Erst ein leises Schmunzeln im Gesicht enthüllt das Verständnis für die Situation der leicht überzeichneten Figuren und deren Schwächen. Bereits vor ihrem Studium an der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) in Leipzig entwickelte sich ihr bissiger Humor. Ihre Eltern waren leidenschaftliche »Pardon« Leser. Nichtsdestotrotz plädiert sie für eine Veränderung der bestehenden, im Printbereich etwas eingestaubten Humorkultur, beispielsweise durch die Entwicklung neuer, frischer Satiremagazine.
Formal lehnt die Künstlerin ihre Zeichnungen dabei an einen comicartigen Stil an, verzichtet jedoch meist auf Sprechblasen und lineare Erzählstränge. Durch Einschübe verschiebt sich die Narration ins Alogische, Leerstellen hinterlassen Fragen und inszenierte Fehler sollen den Betrachter bewusst provozieren. Ulrike Seitz legt bei ihren Zeichnungen Wert auf die Kontur, ihr Strich ist dabei locker und suggestiv. Die Gesetze der Dimensionen und der Perspektive scheinen oft in den Hintergrund zu treten.
Eine frei gezeichnete Serie zu den Abenteuern des Hengstes Fjurie zusammen mit der Zahnfäule beginnt mit dem Besuch der beiden in einem französischen Restaurant. Die Protagonisten stehen stellvertretend für viele negative Folgen der Zivilisation wie übermäßiger Konsum, Überforderung und Dekadenz. Gleich darauf versackt das vor allem bei Kindern beliebte Pferd mit seinem Wassergraben an der Bar. Die genervte Zahnfäule serviert »ein Blaues« für den Graben, kündigt dem wenig heroischen Kunden jedoch an, dass dies das letzte Glas gewesen wäre. Daraufhin folgt ein tierischer Paarungsakt auf der Mattscheibe, Alkohol, Stimmungsmache und verbale Entgleisungen der beiden (Abb.4, rechte Spalte). Die Bilder wirken sehr drastisch und dadurch erzeugen sie Abscheu. Doch gerade die zeichnerische Aufzählung absurder und alltäglicher Begebenheiten mit einem Hang zur Gewalt und zum Exzess löst beim Betrachter eine Vielzahl von Assoziationen aus.
EnzyklopÄdie der Fremdheit
Ulrike Seitz deponiert ihre Botschaften nicht nur in erzählenden Bildergeschichten. Auch in einzelnen Zeichnungen liegt die Crux im Detail. Der Scherenschnitt ›Mann mit Hut‹ (Abb.2, linke Spalte unten) kann nach Belieben angezogen und ausstaffiert werden, schneidet man die Figur und die Accessoires penibel genau aus. Dieses Prinzip ist besonders beliebt als Zeitvertreib in Kinderzeitschriften. Bei genauem Hinschauen fällt jedoch der linke amputierte Arm des Mannes ins Auge. Außer einer Armprothese kann sehr praktisch zwischen einem Hammer-, einem Haken- und einem Spatelarm gewählt werden. Falls die Behinderung der Spielfigur in Gesellschaft der Spielkameraden mal nicht ganz offensichtlich sein soll, stellt die Künstlerin dem Nutzer auch noch einen Handschuh zum Verbergen zur Seite. Ihre Diplomarbeit in der Fachklasse für Illustration bei Prof. Thomas M. Müller an der HGB widmete sie 2009 der Jagd. Aus der Idee für eine Zeitung für den kultivierten Jägersmann wurde letztendlich ein mit Siebdruck in Handarbeit angefertigtes Buch, das sich in seinem Aufbau an den üblichen Rubriken von Magazinen orientiert. Die Jägerzeitschrift markiert den Beginn einer ganzen Reihe von bibliophilen Arbeiten zu Paralleluniversen als sozialen Phänomenen mitten in unserer Gesellschaft. Es ist der erste Band einer ganzen Enzyklopädie der Fremdheit, welche die Künstlerin zukünftig realisieren möchte.
Die einzelnen Rubriken des Buches setzten sich aus entlehnten Texten und dazu passenden Bildern zusammen. Die Themen reichen dabei von Ratschlägen zur nötigen Fitness des Jägers über fingierte Werbung bis hin zur Anleitung zum Trophäenbau (Abb.3, diese Spalte) oder Notenblätter mit entsprechenden Jagdsignalen für das Waldhorn. Biologische Hinweise zu den Drüsen bei Reh und Hirsch finden genauso ihren Platz wie nützliche Kochrezepte, Tipps zur Identifizierung von giftigen Pilzen oder Hinweise zum vierbeinigen Gefährten. Als Quellen dienten der Künstlerin Sachbücher zum Thema, Anekdotensammlungen, und ›Liebhaberliteratur‹, welche die Biologie des Waldes, Vogelstimmen oder technische Fragen der Jagd ansprechen. Zeitlich umfassen die gesammelten Beiträge die Spanne vom 17. Jahrhundert bis hinein in die 1990er Jahre. In der Zeitung für den kultivierten Jägersmann finden sich insgesamt Originaltexte aus zwölf Publikationen, darunter auch ein Gesangbuch, dessen Lieder sogar auf einer angehefteten Schallplatte vertont wurden.
das Buch als komplexes, narratives Medium
Die Texte übernahm die Künstlerin meist in der originalen Typografie, im Ausnahmefall setzte sie den überlieferten Text in Eigenregie neu. Die Federzeichnungen illustrieren den Text, falls beide Elemente aufeinander treffen; können aber auch ganz ohne Worte bestehen. Als Kernstück des Buches sieht Ulrike Seitz ihre eigens entworfene »Lidl Produktwerbung«, die als vermeintlich kommerzielle Rubrik des Buches selbst entworfene Gegenstände an den Jäger bringen soll. Jedes Objekt ist inspiriert von realen Produkten und verfügt über einen eigenen, klangvollen Namen. Die verwendete Sprache nähert sich den Slogans der Werbebranche an, sodass der entstehende Wortwitz im Zusammenhang mit den skurrilen Angeboten erst die implizite Ironie produziert, die sich als typisch für die Arbeiten von Ulrike Seitz erweist. Eine weitere Doppelseite thematisiert die »Faszination Lockjagd« mit einem originalen Sachtext und drei gezeichneten Lehrkassetten sowie verschiedenen Modellen von Lockflöten. Die Kassetten tragen so klangvolle Namen wie »Rufen und Reizen«. Die leise Ahnung des tatsächlichen Bezugs zu realem Jagdzubehör entfacht dabei ein gewisses Unverständnis beim Leser. Ein Gefühl für das Fremde, den Unterschied und das Absurde bricht sich von Kapitel zu Kapitel progressiv bahn. Nicht zuletzt das Augenmerk der Künstlerin auf das Buch als komplexes, narratives Medium und die liebevolle Gestaltung der vermeintlichen Nebensächlichkeiten wie Einband, Schmutzblatt und Schutzumschlag machen die Zeitung für den kultivierten Jägersmann zu einem seltenen Buchkunstwerk, abseits von industrieller Massenproduktion. Man darf gespannt sein, mit welchem Gebiet sich der nächste Band der Serie beschäftigen wird.
Künstlerbücher von Ulrike Seitz
Das Magazin für den kultivierten Jägersmann
Leipzig 2009, 48 Seiten, s/w,
Auflage: 6 Stück, 30 x 38cm,
Siebdruck, Fadenheftung mit Gewebeeinband, farbiger Schutzumschlag, Siebdruck 2-farbig,
Preis auf Anfrage.
Le Journal de Zahnfäule et Fjurie
Leipzig 2006, 8 Seiten, farbig,
Auflage: 15 Stück, 29,7 x 42 cm,
Siebdruck (auf Plano Jet 160 gm²), Schweizer Broschur mit Japanischer Bindung, Siebdruck 3-farbig,
Preis auf Anfrage.
Mehr Informationen unter: http://ulrikeseitzillustration.blogspot.com
Alle Abbildungen © Ulrike Seitz.
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