Brian Jungens »Prototypes for New Understandings«
Schwertwal, Frosch und Menschenfresser
Von Dieter Jüdt
Brian Jungen, Prototype for New Understanding #9, 1999.
Mitte der 1980er Jahre war man bei Nike alles andere als zufrieden mit dem hauseigenen Image einer »white man jogging brand«. Die Verkaufszahlen gingen beständig zurück und man sah sich gezwungen, möglichst bald neue Marktsegmente zu erschließen. Nike nahm den prominenten Basketballer Michael Jordan für 2.5 Millionen Dollar und eine vorläufige Laufzeit von fünf Jahren unter Vertrag. Bevor das erste Produkt dieser Zusammenarbeit, der »Air Jordan 1«, in den Regalen der Sportartikelläden platziert wurde, waren die meisten Basketballschuhe weiß – danach jedoch galt das schwarz-weiss-rote Design des Air Jordan 1 als Nonplusultra, denn Nikes neues Produkt sorgte für gehörigen Trubel innerhalb der Baskeballszene: Da nach Ansicht der National Basketball Association die prägnante Farbkombination aus Schwarz-Weiss-Rot dem Veranstaltungsreglement zuwiderlief, brachte das Tragen während des Spiels Michael Jordan regelmäßig 5000 $ Dollar Strafe und Nike ungeahnte Verkaufszahlen ein. Die Zusammenarbeit Nike und Jordan dürfte im Rahmen des Sportbusiness als eine der erfolgsreichsten Geschäftsbeziehungen überhaupt gelten. Im Laufe der Jahre wurden 123 verschiedene Varianten des Air Jordan produziert, wobei das Original von 1985 mittlerweile für 9.000 $ gehandelt wird. Endgültig zum Fetisch wurde das Modell dann durch MTV und die Rapper der 1980er Jahre. Nikes Popularität drang bis in die abgelegenen Areale der nordamerikanischen Indianerreservate, wo der Basketballsport eine der wenigen idenditätsstiftenden Freizeitbeschäftigungen für die Jugend darstellt.
First Nations
In Kanada definiert seit 1876 der »Indian Act«, wer ein Angehöriger der First Nations, ein behördlich anerkannter Indianer ist. Heiratet z.B. eine Indianerin einen Weißen, verliert sie nach den gesetztlichen Bestimmungen ihre Stammeszugehörigkeit und alle damit verbundenen Privilegien. Selbst Gruppen, welche die Erbfolge traditionell über matrilineare Abstammung regelten, wird dieses Konzept aufgezwungen. Kurioserweise würde einer der zurzeit erfolgreichsten nordamerikanisch-indianischen Künstler nach dieser Lesart bestenfalls als »Non-Status Indian« gelten. Brian Jungen wurde 1970 in Fort St. John, British Kolumbien, Kanada als Sohn eines Schweizers und einer Indianerin vom Volk der Dane-Zaa, geboren. Die Dane-Zaa oder Beaver Indians lebten (und leben teilweise noch heute) als nomadische Jäger und Fallensteller im subarktischen Areal von Kanada. Jungen wächst abgeschieden im Nördlichen British Columbia auf und studierte knapp 10 Jahre am Emily Carr Instiute of Art & Design in Vancouver. Neben Installationen wie Cetology, einem lebensgroßen Modell eines skelettierten Wals, geformt aus weißen Plastikstühlen, erregte vor allem seine konzeptionelle Skulpturenreihe Prototypes for New Understandings einiges Aufsehen in der internationalen Kunstszene. Die dabei entstandenen Serien Prototypes (1998-2005) und Variant I (2002), insgesamt 28 verschiedene Masken, montiert aus Einzelteilen zerschnittener Nike Air-Jordans, stellen nicht nur auf den ersten Blick eine deutliche Bezugnahme zur Kunst der amerikanischen Ureinwohner dar. Die Kunstwelt selbst kokettiert mit Jungens »Aboriginal-Swiss identity«, ist er doch neben Robert Rauschenberg einer der wenigen namhaften Künstler mit indianischem Background: »...as comfortable snowboarding through an old-growth forest as he is cruising through a hipster boutique« – auch für die Amerikaner scheinen Indianer und Romantik zusammenzugehören.
Edward S. Curtis »Group of Winter Dancers«, 1914.
Wolf, BÄr und Rabenvogel
Ende des 19. Jhdts. begannen Museen die Kunst der nordamerikanischen Ureinwohner als Forschungsgegenstand zu begreifen. Man ging davon aus, dass die indigenen Kulturen nicht in der Lage waren zu überleben und wollte deshalb keine Zeit versäumen um Sammlungen und Dokumentationen anzulegen. Im Gefolge von Abstraktion und Expressionismus entwickelte sich dann in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts ein lebhaftes Interesse an Objekten der Inuitkunst, welches in den 1960er Jahren von denen der Westküsten-Schnitzkünstler, der West Coast Native Art, abgelöst wurde. Auf den ersten Blick könnte man Jungens Prototypes als reine Simulationen von Nordwestküsten-Artefakten bezeichnen. Interessanterweise nimmt er damit weniger Bezug auf seinen eigenen kulturellen Background, den der Jägerkultur der Dane-Zaa, sondern bedient sich stattdessen der populäreren Formensprache einer kulturell differierenden, wenn auch geographisch benachbarten ethnischen Gruppierung.
Das Siedlungsgebiet der Nordwestküstenstämme, der Salish, der Nootka, Kwakiutl und Haida uva. erstreckt sich über eine Länge von 3000 Kilometern, vom Columbia River über die Küstenregionen von British Columbia bis hinauf an das Ende des Alaska Panhandle. Lange, bis zur Weltwirschaftskrise, versuchten die Stämme dieser Region ihre traditionelle Lebensweise beizubehalten. Die jährlichen Lachszüge und eine Vielzahl an Fischarten, Schalentieren und Seesäugern boten verlässliche Nahrungsquellen und Materialien, die zur Herstellung von Kleidung und Werkzeugen verwendet wurden. Die küstennahen Regenwälder lieferten pflanzliche Nahrung und Holz für die großen Gemeinschaftshäuser und seetüchtigen Boote. Kunst und zeremonieller Ausdruck bildeten in diesem Kulturareal mit allen Lebensbereichen eine geschlossene Einheit. Während der Winterzeremonien, der traditionellen Zeit für geistige Angelegenheiten, wurden die Grenzen zwischen Gegenwart und Vergangenheit aufgehoben und an eine »Urzeit« erinnert, in der die Abgrenzungen zwischen Menschen, Geistern und Tieren fließend waren. In dieser Zeit konnten Tiere Menschen heiraten und manchmal verwandelten sich Geister aus tierischer in menschliche Gestalt. Mythische Wesen wie Komakwè, ein Geist, der einem Frosch ähnelt und den Schrei eines Säuglings imitiert, spielten dabei eine bedeutsame Rolle als »Mittler« zwischen den Welten. Tänzer trugen hölzerne Wolfs- und Bärenmasken oder große mit Zedernrinde drapierte Masken welche kannibalische Vögel darstellten. Das Privileg auf den Besitz und das Tragen dieser Masken wurde vererbt oder durch Eheschließungen erworben. Unausgesprochen verdeutlichen diese hölzernen Artefakte Rechte, die eine Familie besitzt – das Recht, bestimmte Tänze aufzuführen, bestimmte Lieder zu singen, bestimmte Geschichten zu erzählen.
Prototype for New Understanding #4, 1998.
Der Cindarella-Effekt
So wie der Gebrauch der Masken im zeremoniellen Kontext »magisch« genannt werden darf, so sind auch die Verheißungen der Warenwelt mit irrational-magischen Qualitäten verknüpft. Denn die Brands von Nike, Reebok oder Puma, getragen von sowohl hochbezahlten Profiathleten als auch von Amateuren, versprechen Underdogs und Wannabe-Sportlern in einer Art magischer Transferleistung die Übertragung von Erfolg, Mobilität und Coolness. In »Fetischcharakter der Ware und ihr Geheimnis« beschreibt Karl Marx (Das Kapital, 1867) ein scheinbares »Eigenleben«, welches Produkte menschlicher Arbeit unter den Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise entwickeln (natürlich lässt Nike als astreiner Vertreter des globalen Kapitalismus seine Sportschuhe zu Billiglöhnen in Sweatshops von Mexiko bis Thailand produzieren). Dieses Eigenleben wird in Bezug gesetzt zur Zauberkraft, die in archaischen Gesellschaften einem Fetisch zugesprochen wird. Nach Marx tendieren kapitalistische Gesellschaften dazu, dem Gebrauchswert eine magische Komponente zuzuschreiben, da die Menschen jeden nachvollziehbaren Bezug zur Herstellung der von ihnen erworbenen Produkte verloren haben.
Schwarz-Weiss-Rot
Die prägnante Farbkombination von Brian Jungens Prototypes (es grüßen Robert Rauschenbergs monochrome White, Black and Red Paintings) darf vorrangig als folkloristisches Klischee verstanden werden. Denn die tradtitionelle West Coast Native Art bedient sich tatsächlich unterschiedlichster Farbkombinationen in einer Vielzahl differierender Stile, welche nicht nur von Stamm zu Stamm, sondern sogar von Dorf zu Dorf regionale Besonderheiten aufweisen. Natürlich lassen sich kulturelle Bezüge konstruieren … so steht beispielsweise die Farbe Rot für das mythische Metall Kupfer, welches im sozialen und ökonomischen Gefüge der Nordwestküste wesentliche Funktionen, vor allem als Statussymbol, übernimmt. Die Kombination Schwarz-Weiss dagegen erinnert an die gegensätzlichen mythologischen Charaktere Dzonokwa und Sxwayxwey: Der Begriff Dzonokwa bezeichnet eine Klasse populärer, übernatürlicher, meist weiblicher Wesen, die tief im Waldesinneren wohnen – wilde Riesinnen und Menschenfresserinnen welche bevorzugt Kinder rauben, um sie zu verspeisen. Zu den Menschen unterhalten sie eher zwiespältige, gelegentlich feindselige, dann wieder komplizenhafte Beziehungen. Im Dekor der Dzonokwa-Masken überwiegt das Schwarz, oft tragen sie einen Besatz aus schwarzen Haaren. Die Augen sitzen tief in den Höhlen, der Mund der Menschenfresserin ist rund und nach vorne gestülpt, in Nachahmung ihres charakteristischen Schreis »Uh! uh!«. Konträr in der formalen Gestaltung (und im zeremoniellen Kontext) stehen dagegen die in hellen Farben bemalten Sxwayxwey-Masken. Diese werden mit Krägen aus z. B. Schwanenfedern oder gebleichten Strohhalmen getragen, im Zubehör und Kostüm der Tänzer ist die Farbe Weiß dominant.
Prototype for New Understanding #22, 2005.
Oben: Prototype for New Understanding #20, 2004.
Unten: Prototype for New Understanding #17, 2004.
Das Vexierbild
Sxwayxwey-Masken werden von den indianischen Maskenbauern häufig als Vexierbild angelegt. Ein gestalterisches Prinzip welches sowohl in der Textilkunst als auch den Malereien der gesamten Nordwestküste weit verbreitet ist. Vexierbilder vermitteln aus verschiedenen Blickrichtungen unterschiedliche Bildinhalte, sodass Teile eines Tiers, z.B. die Schwingen eines Adlers, zugleich Teile einer zweiten Figur, evtl. die Brustflosse eines Schwertwals, sein können. Diese Darstellungsweise impliziert fließende Grenzen – zwei Präsenzen können denselben Platz zur selben Zeit einnehmen, so wie sich der zeremonielle Tänzer gleichzeitig in der Gegenwart und der Vergangenheit bewegt. Wie in einem kippenden Vexierbild sind Jungens Masken sowohl Objekte magischer Identifikation unserer Zeit – (fragmentarisierte) Nike Air Jordan Sneaker – als auch Simulationen primitiver religiöser Objekte – Masken der First Nations. Sie sind »Mittler«, wechseln zwischen Vergangenheit und Gegenwart, von einem industriell in Massen hergestellten Gebrauchsgegenstand zum singulären Kunstobjekt. »I went to a sports store and purchased a number of pairs of Air Jordan sneakers and began to dessect them, which in itself was interesting – in that it was almost a sacrilegious act: cutting up and destroying these iconic, collectible (and expensive) shoes.« Jungens Radikalität im Umgang mit diesem Fetisch des 20. Jahrhunderts kann natürlich auch als politisches Statement, als »Custer died for your sins«, gelesen werden (Custer died for your sins, eine Abrechnung des indianischen Autors Vine Deloria Jr. mit dem weißen Amerika erschien 1969 im Buchhandel. Custer died for your Sins wurde ein Hit in indianischen Kassettenrekordern als Song von Floyd Westerman, wurde zum Bumpersticker des American Indian Movement auf den Stoßstangen ihrer rostigen Chevrolets). Der Akt des Zerschneidens, Zerlegens knüpft vor allem aber an kulturelle Traditionen der Jägerstämme im Landesinneren an: In den subarktischen Regionen Kanadas nimmt das Erlegen und Verarbeiten der Karibus eine zentrale Rolle im Leben der umherziehenden Gruppen ein. Die Jagdbeute wurde gehäutet, entfleischt und enthaart, das anschließende Gerben mittels fetthaltigen Substanzen und die mechanische Behandlung während der abschließenden Trockenphase war ein langer und aufwendiger Prozeß. Das Leder wurde zu Kleidung verarbeitet oder bedeckte die Wigwams und bedeutete Wärme, Schutz und Überleben im eisigen Winter.
Prototype for New Understanding #2, 1998 und #3, 1999.
Der Autor ist Zeichner und Illustrator, u.a. für die Süddeutsche Zeitung, Taz und mare.
Empfohlene Literatur
Daina Augaitis: Brian Jungen, Greystone Books, 2005.
Claude Lévi-Strauss: Der Weg der Masken, Suhrkamp, 2004.
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