»Wir sind alle tot.
Willkommen!«
DER STAUB DER AHNEN
Graphic Novel von
Felix Pestemer
von Andreas Rauth
Im Werk des Berliner Zeichners Felix Pestemer besetzt das Thema Vergänglichkeit eine zentrale Rolle. Schon der weiche Strich, mit dem er für gewöhnlich die Dinge konturiert, wirkt wie eine Einladung an den Zahn der Zeit. Überall findet man welke Blüten, modrige Erden, verwitterte Mauern, vergilbte Tapeten und schäbige Gebeine. Die Sinnlichkeit von Ruinen ist in seinen Arbeiten allgegenwärtig: Grau, Braun, Violett, Orange, Gelb und Weiß leuchtet der Regenbogen des Verfalls und verleiht den Bildern einen stumpfen, schummrigen Glanz von Unheimlichkeit. Jetzt ist von ihm im Berliner Avant Verlag eine Graphic Novel über den mexikanischen Totenkult erschienen.
Auf 80 großformatigen Seiten entfaltet der 1974 in Braunschweig geborene Felix Pestemer seine Geschichte über den Tag der Toten in Mexiko. Dabei arrangiert er, auf fünf Kapitel verteilt, eine Reihe von Episoden, in denen zumeist Mitglieder der Familie Rojas ums Leben kommen. Nicht alle sterben nach einem langen erfüllten Leben, genauer gesagt, eigentlich keiner von ihnen. Abenteuerlust, Leichtsinn, Gedankenlosigkeit, schwache Konstitution, Unfall, Gewalt, Drogen – was der Tod als Repertoire über die Jahrhunderte aufgebaut hat, Familie Rojas hat es ausprobiert – freilich jeder von ihnen nur ein Mal.
Am Beginn der Erzählung steht der tragische Unfalltot des jungen Benito, der bei dem Versuch, einen über den Bolzplatz hinausgeschossenen Fußball wiederzuholen, vor einen LKW rennt. Zur Beerdigung reist der Museumswärter und alte Freund der Familie Rojas, Eusebio Ramirez, nach zwanzig Jahren das erste Mal wieder in seinen Heimatort. Ihn verbindet der ebenso lange zurückliegende Tod von Victor, dem älteren Bruder von Benitos Mutter Consuela, auf besonders schmerzhafte Weise mit der Familie. Er hält die Gegenwart der Vergangenheit auch nicht lange aus.
Neben Consuelas Bruder Victor und dessen Frau Esperanza gehören auch die Großeltern Dolores und Candelario sowie Dolores Schwester Angeles und Candelarios’ Großvater, der Revolutionsheld El Negro, zum Ensemble der Verblichenen. Ach ja, der Maskenschnitzer José Guadalupe Reyes, dessen Werk Eusebio im Maskenmuseum bewacht, ist auch noch dabei.
Ihrer aller Unglück speist den Totenkult der Hinterbliebenen. Eusebios Ansicht, die Toten hätten, solange man sich ihrer erinnert, ein Weiterleben im Jenseits und würden erst zu Staub zerbröseln, wenn sie dem Vergessen anheim fallen, liefert den Hintergrund der Geschichte. Auf der Rückfahrt im Bus verfasst Eusebio einen Brief an Consuela, der den Rahmen für die folgenden Episoden abgibt.
Dem ErzÄhler ist nicht zu trauen. NatÜrlich liegt darin ein besonderer Reiz von Der Staub der Ahnen.
Geschickt nutzt Pestemer den Vorteil zweier Vermittlungsebenen, wenn er mit Bild und Text die Ereignisse in zum Teil voneinander abweichenden Versionen schildert. Dabei wird die zwischen Bild und Text klaffende Lücke zur erzählstrategischen Quelle aus der ironische Distanz, aufklärerische Dokumentation und Mythenbildung sprudeln. So sehen wir beispielsweise, dass Angeles, deren Tod ungewiss und rätselhaft blieb – das Mädchen verschwand einfach an einem »Nachmittag im Sommer des Jahres 1937« –, beim Spiel ein alter Safe, der ihr als Versteck diente, zum Verhängnis wurde. Aus Rache für die ihr zugefügte Erniedrigung, verriegelte ihre jüngere Schwester Dolores, damals vielleicht fünf Jahre alt, die Safetür und entfernte sich anschließend, nicht wissend, Angeles einem qualvollen Tod ausgesetzt zu haben.
Man ist leicht geneigt, die Bildversion für die Darstellung der (innerhalb der Fiktion) wahren Ereignisse zu halten; als Antwort auf die im Text vorangestellte Frage: »Wie konnte Angeles im menschenüberfüllten Alameda-Park spurlos verschwinden?« Ja wie nur? Es folgt die oben beschriebene Szene. Handelt es sich dabei um eine in allerbester Absicht verfasste Annahme eines Erzählers, dem die fiktionale Wahrheit oberstes Gebot ist? Oder wird hier gar in irreführender Absicht geschildert, was sich nie ereignet hat, gelogen also, um den Leser gegen die als boshaft dastehende kleine Dolores einzunehmen? Denn wer aufmerksam hinsieht, wird auch ihr Bild als alte Frau und Gattin von Candelario in der zweiten Episode kaum eine positive Darstellung nennen. Soll man dem Erzähler glauben oder nicht? Irgendwie ist ihm nicht zu trauen. Natürlich liegt darin ein besonderer Reiz von Der Staub der Ahnen.
Wie geht es zu bei den Toten? Gesetzt den Fall, dass es dort, wo eigentlich nichts mehr geht, Überhaupt irgendwie zugeht.
Die Todesfälle und ihre Vorgeschichte sind das eine, das andere ist das Totsein. Wie geht es zu bei den Toten? Gesetzt den Fall, dass es dort, wo eigentlich nichts mehr geht, überhaupt irgendwie zugeht. Felix Pestemer findet wenig Tröstliches (je nach Gemüt des Lesers werden die Meinungen hierüber wohl auseinander gehen).
Zunächst wird Benito, dem Neuankömmling, die Angst vor seinem neuen Zustand genommen: »Wir sind alle tot. Willkommen!«, deklarieren unisono die Verblichenen (Abb. oben). Allein diese vertraute Begrüßung lässt bereits Rückschlüsse auf die allgemeinen Erlebnisqualitäten der anderen Seite zu. Totsein ist langweilig! Herrgott nochmal, eine Ewigkeit! Jeder weiß, dass schon zehn Minuten an der Bushaltestelle die reine Qual sind. Dass die Toten nicht zu beneiden sind, haben wir natürlich immer schon geahnt, die wahre Bitternis, wie sie einige Seiten später in Gestalt eines den schwarzen Abgrund mit einem herkömmlichen Besen kehrenden Skeletts offenbar wird, jedoch nie. Es lohnt nicht, weiter darüber Worte zu verlieren, der Alltag der Toten ist genauso banal und lästig wie jener hier auf Erden. Doch halt! führt Pestemer uns nicht mit feiner Ironie geradenwegs auf einen wenig beachteten Aspekt des Todlangweiligen? Wer bisher annahm, tödliche Langeweile bezeichne einen Zustand erlittener Reizarmut mit finaler Konsequenz, der kennt nur die eine Hälfte. Tödlich ist die Langeweile zwar, langweilig aber auch der Tod. Das ist der wahre Schrecken. Und hinzu kommt ein zweiter: Die Toten sind in keiner Weise geläutert; nicht nur der Tod ist ewig, Neid, Missgunst und kleinlicher Zank sind es ebenfalls.
Das entspricht ganz der mexikanischen Bildtradition eines Manuel Manilla oder José Guadalupe Posada. Beide Zeichner belieferten im späten 19. Jahrhundert mit Skelettdarstellungen, die gewöhnlichen Alltagstätigkeiten nachgehen, den populären Bilderhandel zum Dia de los Muertos. Posadas Werk wurde im 20. Jahrhundert, auf Anregung des berühmten muralista (Wandmaler) Diego Rivera – dem Pestemer auch einen Cameo-Auftritt in seiner Geschichte verschafft hat –, durch den Künstler Jean Charlot einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Besonders seine Calavera de la Catrina, die reiche und modebewusste Skelettdame mit üppigem Blumenhut, schart bis heute ihre Bewunderer um sich. Dem Filmregisseur Tim Burton soll sie als Vorlage für Corpse Bride gedient haben. (Abb. unten)
José Guadalupe Posada: Calavera de la Catrina, 1913.
Aufenthaltsort der Toten ist ein schwarzes Nichts, in dem eine Grablaterne nur wenig Licht spendet. Was auf Erden den Dahingeschiedenen auch mitgegeben wurde – hier unten fehlt es. Hier gibt es eben nur Nichts – abgesehen von den Toten, die sind ja etwas, Tote eben, Reste des Lebendigen. Gelangweilte, zänkische Reste, deren Popularität darin besteht, dass sie sich um nichts als Fleisches Fülle von den Lebenden unterscheiden. So scheint es. Eine Veranstaltung jedoch, zu der eingeladen hienieden auf niemandes Antlitz ein Lächeln zaubert – ein Verzicht jedoch nicht zur Disposition steht –, findet ein Stockwerk tiefer ungeteilte Zustimmung, denn sie vertreibt die Langeweile: Der Totentanz.
In den spätmittelalterlichen Totentänzen des Abendlandes fordert der Tod einen jeden, ohne Ansehen von Stand oder Herkunft, zum letzten Tanz auf: Bettler, Handwerker, Arzt, Pfaffe, nicht dem Kaiser nutzt, was er auch aufbieten möge, eine andere Rolle als die des Geführten einzunehmen und sich führen zu lassen wohin des Todes Wunsch und Wille geht. In Pestemers persiflierender Darstellung aber schwingen die Knochenmänner und -frauen (-kinder und -tiere) in trauter Dunkelheit gemeinsam das Gebein. Tote haben den Tod eben nicht mehr zu fürchten. Tod umarmt hier Tod. Wer hätte geahnt, dass die Lust das Fleisch überdauert? Darüber hatte sich auch der Dichter Charles Baudelaire Gedanken gemacht. In seinem Gedicht »Totentanz« tritt allerdings ein skelettiertes Vollweib – eine Art französische Catrina – in den Reigen der Sterblichen:
Kommst du, das Fest des Lebens mit feixendem Gesicht
Zu stören? Oder treibt dich älteres Verlangen,
Das dir noch immer die lebendigen Knochen sticht,
Dass du zu dem Spektakel der Lüste hingegangen?
Hoffst du, der Kerzenschimmer und das Geigenklingen
Verscheucht den Alptraum, welcher dich verlacht,
Und willst du dies im Sturm der Orgien erringen,
Dass er die Hölle dir im Herzen neu entfacht?
Charles Baudelaire: Die Blumen des Bösen. XCVII Totentanz (Auszug)
DIE toten haben ihre Macht verloren
Eine Orgie freilich ist es nicht zu nennen, was die Toten in Der Staub der Ahnen veranstalten, eher gleicht es einem heiteren Familienfest. Überhaupt handelt es sich um durchweg freundliche Ahnen. Dämonen, rachsüchtige Geister sucht man hier vergeblich. Die üppigen Altäre, welche von Hinterbliebenen zu deren Gedenken errichtet werden, dienen kaum ihrer Besänftigung. Man steht sich bemerkenswert gut mit den Toten. Ganz anders hatte Sigmund Freud in Totem und Tabu das Verhältnis zu den Ahnen in animistischen Kulturen beschrieben. Nach Freud beherrschen in archaischen Gesellschaften ambivalente Gefühle das Verhältnis zu den nächsten Verwandten. Man liebt und man ehrt sie, sicher, aber nicht ausschließlich. Doch die feindseligen Gefühle ihnen gegenüber bleiben uneingestanden, werden verdrängt und kehren nach dem Ableben der Liebsten als Projektion in Gestalt eines dämonischen Charakters zurück. Dem modernen mexikanischen Totenkult sind solche Dinge offenbar fremd. Die Toten haben ihre Macht verloren.
Und so verfallen am Ende der Geschichte die sterblichen Überreste von José Guadalupe Reyes nebst Papagei und Hund zu Staub; sinken ihre Gebeine zerbröselt in den schwarzen Grund, weil das Maskenmuseum durch Eusebios Unachtsamkeit in Flammen aufgeht (Abb. oben, die Zigarre wird den Brand entfachen). Mit dem Museum verschwindet (Abb. unten) die Erinnerung, und mit ihr die Toten.
ein ungewÖhnlicher Beitrag zur interkulturellen Kommunikation
Felix Pestemer hat lange an diesem Projekt gearbeitet; bereits 2005/2006 führte ihn eine DAAD-Stipendium für einen Forschungsaufenthalt nach Mexiko. Vor gut zwei Jahren publizierte er dann im Selbstverlag eine Bildergeschichte zum Dia de los Muertos. Polvo, so der Titel, bildet die Basis von Der Staub der Ahnen, für den die Geschichte »um zahlreiche detaillierte Bilder erweitert und narrativ überarbeitet wurde.« Ein Glossar im hinteren Teil des Buches erläutert viele Darstellungen und Szenen im Detail und gibt Auskunft zu verwendeten Bildzitaten. Eines davon, die Nachtmahr aus Johann Heinrich Füsslis berühmten Gemälde gleichen Titels (1790/91, auf links oben in der Mitte), ist schon so etwas wie das Markenzeichen seines Labels Puttbill geworden (obwohl er dafür ein anderes Symbol verwendet), unter dem er Bilderbuch-Parabeln und narrative Grafikserien veröffentlicht.
Felix Pestemer, der in Berlin und Barcelona Kunst und Illustration studierte, ist ein guter Erzähler und hervorragender Kolorist mit ausgeprägtem Sinn fürs Detail. Üppige Arrangements sind seine Stärke, Dingensembles vor allem. Mit der gründlich recherchierten Graphic Novel Der Staub der Ahnen ist dem Zeichner und Autor eine eigenständige Dokufiction voller Empathie und Ironie gelungen – und nicht zuletzt ein ungewöhnlicher Beitrag zur interkulturellen Kommunikation.
Felix Pestemer: Der Staub der Ahnen
Avant Verlag, Berlin 2012,
88 Seiten, farbig 23,5 x 31,5 cm,
Broschur, Fadenheftung
24,95 €
Felix Pestemers Webseite www.puttbill.com
Alle Abbildungen © Felix Pestemer, wenn nicht anders vermerkt.
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