Aufenthaltsort der Toten ist ein schwarzes Nichts, in dem eine Grablaterne nur wenig Licht spendet. Was auf Erden den Dahingeschiedenen auch mitgegeben wurde – hier unten fehlt es. Hier gibt es eben nur Nichts – abgesehen von den Toten, die sind ja etwas, Tote eben, Reste des Lebendigen. Gelangweilte, zänkische Reste, deren Popularität darin besteht, dass sie sich um nichts als Fleisches Fülle von den Lebenden unterscheiden. So scheint es. Eine Veranstaltung jedoch, zu der eingeladen hienieden auf niemandes Antlitz ein Lächeln zaubert – ein Verzicht jedoch nicht zur Disposition steht –, findet ein Stockwerk tiefer ungeteilte Zustimmung, denn sie vertreibt die Langeweile: Der Totentanz.

In den spätmittelalterlichen Totentänzen des Abendlandes fordert der Tod einen jeden, ohne Ansehen von Stand oder Herkunft, zum letzten Tanz auf: Bettler, Handwerker, Arzt, Pfaffe, nicht dem Kaiser nutzt, was er auch aufbieten möge, eine andere Rolle als die des Geführten einzunehmen und sich führen zu lassen wohin des Todes Wunsch und Wille geht. In Pestemers persiflierender Darstellung aber schwingen die Knochenmänner und -frauen (-kinder und -tiere) in trauter Dunkelheit gemeinsam das Gebein. Tote haben den Tod eben nicht mehr zu fürchten. Tod umarmt hier Tod. Wer hätte geahnt, dass die Lust das Fleisch überdauert? Darüber hatte sich auch der Dichter Charles Baudelaire Gedanken gemacht. In seinem Gedicht »Totentanz« tritt allerdings ein skelettiertes Vollweib – eine Art französische Catrina – in den Reigen der Sterblichen:

Kommst du, das Fest des Lebens mit feixendem Gesicht
Zu stören? Oder treibt dich älteres Verlangen,
Das dir noch immer die lebendigen Knochen sticht,
Dass du zu dem Spektakel der Lüste hingegangen?

Hoffst du, der Kerzenschimmer und das Geigenklingen
Verscheucht den Alptraum, welcher dich verlacht,
Und willst du dies im Sturm der Orgien erringen,
Dass er die Hölle dir im Herzen neu entfacht?

Charles Baudelaire: Die Blumen des Bösen. XCVII Totentanz (Auszug)

Der Staub der Ahnen. Der Museumswärter schläft.

DIE toten haben ihre Macht verloren

Eine Orgie freilich ist es nicht zu nennen, was die Toten in Der Staub der Ahnen veranstalten, eher gleicht es einem heiteren Familienfest. Überhaupt handelt es sich um durchweg freundliche Ahnen. Dämonen, rachsüchtige Geister sucht man hier vergeblich. Die üppigen Altäre, welche von Hinterbliebenen zu deren Gedenken errichtet werden, dienen kaum ihrer Besänftigung. Man steht sich bemerkenswert gut mit den Toten. Ganz anders hatte Sigmund Freud in Totem und Tabu das Verhältnis zu den Ahnen in animistischen Kulturen beschrieben. Nach Freud beherrschen in archaischen Gesellschaften ambivalente Gefühle das Verhältnis zu den nächsten Verwandten. Man liebt und man ehrt sie, sicher, aber nicht ausschließlich. Doch die feindseligen Gefühle ihnen gegenüber bleiben uneingestanden, werden verdrängt und kehren nach dem Ableben der Liebsten als Projektion in Gestalt eines dämonischen Charakters zurück. Dem modernen mexikanischen Totenkult sind solche Dinge offenbar fremd. Die Toten haben ihre Macht verloren.

Und so verfallen am Ende der Geschichte die sterblichen Überreste von José Guadalupe Reyes nebst Papagei und Hund zu Staub; sinken ihre Gebeine zerbröselt in den schwarzen Grund, weil das Maskenmuseum durch Eusebios Unachtsamkeit in Flammen aufgeht (Abb. oben, die Zigarre wird den Brand entfachen). Mit dem Museum verschwindet (Abb. unten) die Erinnerung, und mit ihr die Toten.

Der Staub der Ahnen: Das ausgebrannte Museum.

ein ungewÖhnlicher Beitrag zur interkulturellen Kommunikation

Felix Pestemer hat lange an diesem Projekt gearbeitet; bereits 2005/2006 führte ihn eine DAAD-Stipendium für einen Forschungsaufenthalt nach Mexiko. Vor gut zwei Jahren publizierte er dann im Selbstverlag eine Bildergeschichte zum Dia de los Muertos. Polvo, so der Titel, bildet die Basis von Der Staub der Ahnen, für den die Geschichte »um zahlreiche detaillierte Bilder erweitert und narrativ überarbeitet wurde.« Ein Glossar im hinteren Teil des Buches erläutert viele Darstellungen und Szenen im Detail und gibt Auskunft zu verwendeten Bildzitaten. Eines davon, die Nachtmahr aus Johann Heinrich Füsslis berühmten Gemälde gleichen Titels (1790/91, auf links oben in der Mitte), ist schon so etwas wie das Markenzeichen seines Labels Puttbill geworden (obwohl er dafür ein anderes Symbol verwendet), unter dem er Bilderbuch-Parabeln und narrative Grafikserien veröffentlicht.

Felix Pestemer, der in Berlin und Barcelona Kunst und Illustration studierte, ist ein guter Erzähler und hervorragender Kolorist mit ausgeprägtem Sinn fürs Detail. Üppige Arrangements sind seine Stärke, Dingensembles vor allem. Mit der gründlich recherchierten Graphic Novel Der Staub der Ahnen ist dem Zeichner und Autor eine eigenständige Dokufiction voller Empathie und Ironie gelungen – und nicht zuletzt ein ungewöhnlicher Beitrag zur interkulturellen Kommunikation.

Felix Pestemer: Der Staub der Ahnen
Avant Verlag, Berlin 2012,
88 Seiten, farbig 23,5 x 31,5 cm,
Broschur, Fadenheftung
24,95 €

Felix Pestemers Webseite www.puttbill.com

Alle Abbildungen © Felix Pestemer, wenn nicht anders vermerkt.

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