Geschichten zeichnen. Erzählung in der zeitgenössischen Grafik, Katalogtitel

Objeczs of Knowledge Buch

Direkter geht Jana Gunstheimer in Methods of Destruction (2011, Abb. 4) vor. Ihre fiktionale Dokumentation von auf Kunstwerke ausgeübte Zerstörungsakte enthält neben den als Zeichnung reproduzierten beschädigten Werken die dazugehörige Erzählung in Textform.

jana Gunstheimer, Methods of Destruction, 2011

Abb. 4: Jana Gunstheimer, Methods of Destruction. Lucrecia Borgia, 2011.

Micha Payer & Martin Gabriel verweben in ihrer »bis heute umfangreichsten Arbeit Notizen auf dem Wunderblock von 2008 auf fünfzig DIN-A-4-Blättern Motive ihres privaten Lebens und der kollektiven Erinnerung«. Hier weckt allein die Anordnung den Eindruck eines Erzählstrangs, in dem die Ereignisse nicht nur zeitlich »aufeinander, sondern auch nach einer Regel oder Gesetzmäßigkeit auseinander folgen« (Martinez/Scheffel). Dennoch stellt das Werk hohe Ansprüche an die Fabulierkraft des Betrachters, da manches, was sich scheinbar leicht ineinander fügt letztlich rätselhaft bleibt. Diese Rätselhaftigkeit bildet natürlich ihren eigenen und gewollten Reiz. Hugo Friedrich schreibt in seiner klassischen Untersuchung über Die Struktur der modernen Lyrik, »ihr Wortzauber und ihre Geheimnishaftigkeit wirken zwingend, obwohl das Verstehen desorientiert wird.« Eine Aussage, die nach einem Austausch von »Wortzauber« durch »Bildzauber«, uneingeschränkt auf die Erzählung in der zeitgenössischen Grafik übertragen werden kann. Den vielleicht schlagendsten Beweis dafür liefert die Amerikanerin Amy Cutler. In dem Textbeitrag zu ihren Arbeiten weist Anita Haldemann darauf hin, dass Cutlers Zeichnungen zwar wie Illustrationen zu vorhandenen Geschichten aussehen – die fein ausgearbeiteten Zeichnungen erinnern an typische Kinderbuchillustrationen –, man sucht jedoch vergeblich nach einer solchen Vorlage. An klassischen Erzählungen trainierte Rezeptionsmuster laufen bei Cutler ins Leere. Bei ihr wie auch den meisten anderen muss der Betrachter bereit sein, frustrationsfrei ins Leere zu stürzen. Wem die Desorientierung des Verstehens größere Unlust als die Geheimnishaftigkeit Lust verschafft, wird sich schnell abwenden. Poesie ist nichts für Feiglinge. Es drängt sich sogleich die Frage auf, wie diese Form poetischer, diskontinuierlicher Narration eigentlich erzähltheoretisch zu fassen ist. Ist das, was in der Schwebe frei fließender Assoziationen entsteht, noch mit Recht Erzählung zu nennen?

Micha Payer & Martin Gabriel

Amy Cutler

Abb. 5 und 6: Micha Payer & Martin Gabriel, Notizen auf dem Wunderblock, 2008 (Ausschnitt). Amy Cutler, Above the Fjord, 2010.

Die Arbeiten von Andreas Seltzer und Karen Scheper sind dann Illustrationsarbeiten im eigentlichen Sinn. Obschon weit entfernt von marktkonformer Bilderware, in denen seit dem neunzehnten Jahrhundert die immergleichen Bild/Text-Kombinationen wiederholt werden, wodurch allerdings eine völlig verschobene Vorstellung von Illustration etabliert wurde, möchte ich diese Arbeiten als Illustration bezeichnen. Tobias Burg weist zwar mit Erhart Kästner auf den sinnverfälschenden Gebrauch des Wortes hin – Kästner hatte sich schon 1968 gegen den üblichen Vorwurf, Illustration sei nicht eigenständig, da sie nur im Bild repetiere, was im Text ohnehin schon genannt wird, zur Wehr gesetzt. Burg indes traut sich nicht, das Wort hier einmal ins Positive zu wenden, er glaubt zögern zu müssen Seltzers Arbeiten »schlicht als Illustration … zu klassifizieren« – und manövriert nur um Haaresbreite am »deklassieren« vorbei. Die Angst der Kunst vor der Illustration sitzt so tief, dass Kästners Vorstoß auch heute noch auf eine fest betonierte Geringschätzung prallt. Arbeiten wie die von Seltzer und Scheper sind sogar weit mehr Illustration als vieles von dem, was so tagtäglich unter diesem Etikett produziert wird. Der Begriff Illustration verträgt nicht nur eine Aktualisierung und Neubewertung, sie ist sogar dringend erforderlich – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der hier besprochenen Thematik. Und ungewöhnliche Illustrationsarbeiten wie die von Seltzer und Scheper sind bestens geeignet, dem vom Mainstream okkupierten Begriff eine neue, intelligentere Bedeutung zu geben.

Andreas Seltzers 2003 begonnenes »zeichnerisches Hauptwerk«, die Reise zum Mittelpunkt der Erde »umfasst bis heute 160 Einzelblätter und wächst noch immer«. Darauf finden sich in handschriftlicher Kopie Jules Vernes Roman sowie in feinen roten, blauen und gelben Linien verfasste Zeichnungen. Auch bei ihm ist die Bild-Text-Schere weit geöffnet. Es wiederholen sich aber bestimmte Motive, sodass eine Erzählung entsteht, »die parallel zum Romantext verläuft und diesem eine neue Ebene hinzufügt.« Karen Scheper verlässt mit ihrem Schriftzeichnungsprojekt The Skitz Book sogar die Zweidimensionalität und entwirft eine raumgreifende Installation. »Ausufernde Text-Zeichen-Multiversen binden detaillierte Zeichnungen mit schwarz-weißen Satz- und Buchstaben-Objekten«, heißt es dazu etwas überengagiert auf der Webseite der Künstlerin. »Durch zeichnerische Überlagerung, Verflechtung und Ausmerzung von Textpassagen« löst sie sich von der Romanvorlage und driftet in neue »Text-Zeichen-Multiversen«, wobei jedes Kapitel eine eigene Form bekommt.

Andreas Seltzer, Reise zum Mittelpunkt der ErdeKaren Scheper

Abb. 7 und 8: Andreas Seltzer, Reise zum Mittelpunkt der Erde, seit 2003. Karen Scheper, The Skitz Book [ch13], 2008.

In der Ausstellung, die der Rezensent leider nicht besuchen konnte, wurden zusätzlich animierte Künstlerfilme präsentiert, denen Zeichnungen zugrunde liegen. Erarbeitet wurde das Filmprogramm gemeinsam mit Bettina Munk, die die Internetplattform lines-fiction.de ins Leben gerufen hat, auf der in wechselndem Turnus internationale Animationsfilme zeitgenössischer Künstler vorgestellt werden.

Es wäre sicherlich interessant gewesen, die aktuellen Positionen visueller Narration mit älteren Arbeiten zu konfrontieren. Ich denke da beispielsweise an Alfred Rethels Auch ein Todtentanz aus dem Jahre 1848 von 1849, Klingers Paraphrase über den Fund eines Handschuhs von 1881 oder Une semaine de bonté von Max Ernst aus dem Jahr 1934, um nur einige der bekanntesten Werke zu nennen. Ebenso hätte man die zeitgenössische Illustration und Graphic Novel mit einbeziehen können, aber das hätte vermutlich den zur Verfügung stehenden Rahmen gesprengt. Natürlich lässt sich die Vielfalt visueller Narration an zwölf Positionen nicht erschöpfend darstellen, doch die Auswahl präsentiert eine Reihe attraktiver Erzählkonzepte, die gerade in ihrer Offenheit und den jede Erzähldefinition ignorierenden Regelwidrigkeiten bestätigen, was der Phänomenologe Wilhelm Schapp im Titel seines bekannten Werks behauptet: Der Mensch ist »in Geschichten verstrickt«.

Geschichten zeichnen
Erzählung in der zeitgenössischen Grafik

Museum Folkwang
Edition Folkwang/Steidl Ausstellungskatalog,
Hardcover, 21 x 27 cm, 168 S. Deutsch/Englisch

Mit Texten von Tobias Burg, Ute Eskildsen, Hans-Jürgen Lechtreck, Andreas Schalhorn, Vanessa Joan Müller, Anita Haldemann, Bettina Munk und Rainer Hoffmann
€ 28.00

www.museum-folkwang.de

Alle Bilder © bei Edition Folkwang/Steidl und den Künstlern.

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