Das große Rauschen.
Graphic Novel von Verena Postweiler & Dieter Jüdt

Das halbe tote HÄhnchen

Von Andreas Rauth

Das große Rauschen: Titel

Das große Rauschen.
Text: Verena Postweiler Illustrationen: Dieter Jüdt
Quartheft 37 Edition Panopticon
68 Seiten / 350 × 133 mm,
Hardcover, Halbleinen
Verlagshaus J. Frank Berlin 2012
Preis: 39,90 €

»Die Angst … dass das jetzt schon alles war« legt sich einer jungen Mutter, die ihr Kind zu Bett bringt, bedrückend auf Herz und Hirn. Verena Postweiler, Textautorin von Das große Rauschen, spricht in der Episode Das Kontingent ein latentes Gefühl schicksalhafter Bedrohung aus. Unterdessen verwandelt Dieter Jüdt, Bildautor von Das große Rauschen, das Gesicht der jungen Frau in einen Vollmond hinter Gentrifizierungsarchitektur. Die im Leben beharrlich ignorierte Tatsache seiner Endlichkeit findet in der motivischen Kombination des absolut Beliebigen (die Architektur) mit dem absolut Gegebenen (der Mond) einen bitter-ironischen Widerhall. »… dass das jetzt schon alles war« verbindet eine unheimliche Zufälligkeit, in die wir unser Vertrauen unausweichlich zu legen gezwungen sind, mit dem irrationalen Wunsch, der Himmel möge Notiz von uns nehmen.

Der Alltag. Er ist und bleibt eben das, was das Wort sagt: Es ist der Tag, der wie alle Tage ist. Und alle Tage sind gleich, einer wie der andere, deswegen gibt es auch keinen Plural, keine Alltage. Der Alltag ist das unterschiedslose Einerlei, die immer gleiche Abfolge lästiger Tätigkeiten und Besorgungen, das Kümmern um die Notwendigkeiten des Lebens, unter denen es unbemerkt und reizarm zerfließt, bis man eines (All-)Tages feststellt, dass es irgendwie ohne einen stattgefunden hat. Alltag wird bewältigt, er ist Arbeit und Last – Festtage werden begangen. Alltag ist ein Synonym für Langeweile, welche der Dichter Charles Baudelaire als jenes Ungeheuer beschrieb, das mehr als alle anderen »hässlich und gemein« ist. Im Bauch dieses gefräßigen Monstrums sind schon Millionen auf Nimmerwiedersehen verschwunden und schwerlich nur ließe sich jemand finden, ein Loblied auf den Vielfraß anzustimmen. Das Credo der Freizeit- und Tourismusindustrie lautet daher auch unmissverständlich: Weg hier! Einfach mal raus aus dem Alltag! Rein ins Paradies!

Und doch: schaut man sich um, wird der Alltag gefeiert, als handele es sich dabei um eine Sphäre mit Garantie auf Hochgenuss – man kann gar nicht genug davon kriegen. Unzählige Zeitschriften widmen sich dem zu Vermeidenden mit einer unerklärlichen Hingabe. Geschichten des Alltags haben ebenso Konjunktur wie Alltagsästhetik und die intimsten Geheimnisse des Privatlebens. Social Media lautet die Umschreibung für Selbstentblößungspraktiken aller Art. Der amerikanische Soziologe Richard Sennett sprach schon 1974 von der »Tyrannei der Intimität«. »Dass jede Person in gewissem Maße ein Horrorkabinett ist«, (Sennett) schreckt indes niemanden. Mit voyeuristischer Lust und exhibitionistischer Hingabe wird sich glotzend voreinander entblößt.

Das große Rauschen: London Calling

Maschinenhafte Gleichschaltung, rücksichtsloser Funktionszwang, Anonymität und lückenlose Kontrolle werden aber nicht erst seit heute oder gestern beklagt. Schon die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, so ist bei Christoph Asendorf nachzulesen, floh vor der von ihr selbst geschaffenen industriellen Wirklichkeit ins behagliche Futteral des Interieurs. Ein Interieur, welches aus Dingen bestand, deren Voraussetzung jene Produktionsbedingungen waren, die den Anlass zur Flucht erst gaben. Der bürgerliche Charakter hatte stets die Veranlagung zu Unterwerfung und Selbstverleugnung. Zwar ist der Alltag keine Erfindung der Neuzeit, ebenso wenig seine Niedrigkeit. Bereits im antiken Alltagsroman »erscheint [er] als die Unterwelt, das Grab, wo es weder Sonnenschein noch einen Sternenhimmel gibt, […] seine Logik ist die der Obszönität«, scheibt der russiche Literaturwissenschaftler Michail Bachtin in seiner Untersuchung zu Formen der Zeit im Roman. Doch erst die bürgerliche Gesellschaft hat vom Leben nichts als Alltag übrig gelassen. Sie hat, um im Bild zu bleiben, das Leben in ein Grab verwandelt. Darin liegt sie selbst. Die bürgerliche Existenz ist ein Leichnam oder, um mit George Bataille zu sprechen, »die universelle Schäbigkeit«.

Der von der Wirtschaft kontrollierte Alltag schlägt sich längst in Kunst und Wissenschaft nieder. Symposien werden veranstaltet, Ausstellungen kuratiert, der Alltag wird erforscht. Spätestens mit Marcel Duchamp ist der Alltag kunstfähig geworden – wenngleich die Kunst durch »Verklärung des Gewöhnlichen« (Danto) häufig darauf zielt, den Alltag auf den Kopf zu stellen (buchstäblich sogar bei Duchamp), ihn zu reinigen, indem sie ihn opak, also undurchsichtig macht. Die vor kurzem (Februar 2013) in der Frankfurter Schirn zu Ende gegangene Ausstellung Privat zeigte indes ästhetische Phänomene, die mit diesem Gestus der Kunst kaum etwas gemeinsam haben, an denen aber die Konjunktur der Enthüllung (und damit auch des Geheimnisses) deutlich abzulesen war. Insofern sich in den Enthüllungspraktiken eine Alltagsästhetik zeigt, lässt sie sich zumeist auf drei Konzepte reduzieren: Als Gegenmittel zur Unwirtlichkeit und Ödnis des Alltags wird gerne, weil die dort herrschende Gefühlskälte als frustrierend empfunden wird, Herzlichkeit empfohlen (Kitsch); gegen die Gleichmacherei wiederum soll Geschmack helfen (Designerkitsch) und Ironie (Trash) gegen Vereinnahmungstendenzen – sie gilt allgemein als die intelligentere Variante. Über allem schwebt die Forderung zur Authentizität, die kaum je erfüllt wird. Weder befindet sie sich dort, wo in naiver Affirmation Klischees reproduziert werden, noch dort, wo man sein Spiel damit treibt – aber auch nicht, wo mit radikalem Gestus Grenzen überschritten werden. Alles verfängt sich in den Angeln einer unausweichlichen Bezogenheit. Mehr als Differenz ist nicht zu erreichen.

Eines der Hauptthemen, mit denen sich die Alltagskulturindustrie beschäftigt, ist die Beziehung von Mensch und Ding. Und so werden immer neue Dinge präsentiert: raffinierte, schöne, exklusive, idiosynkratische, nostalgische, naive, skandalöse, spektakuläre usw. Doch es ist offensichtlich, dass jeder neue Gegenstand die Langeweile, die mit ihm bekämpft werden soll, nur reproduziert. Wie alles, was die bürgerlich-kapitalistische Massengesellschaft erfindet, um die Kollateralschäden des unausgesetzten zweckrationalen Terrors, den sie ihren Individuen aufzwingt, abzumildern, endet auch die Totalästhetisierung des Alltags nicht in einer Beseitigung des Unerwünschten, sondern in dessen Vermehrung. Der Massentourist endet mit Cocktail am Swimmingpool vor dem Meer und wartet nur darauf, in seiner Ideen- und Geistesarmut von professionellen Zeitvertreibern bespaßt zu werden – das heißt dann »Paradies«. Zu recht darf man fragen wie in diesem grauenhaften Milieu eigentlich noch Leben möglich sein soll, jedenfalls eines, das den Namen verdient..

In der Alltagswahrnehmung zählt, grob formuliert, ob etwas essbar ist oder der Fortpflanzung dienen könnte.

Aber ist es wirklich so, dass dem Individuum, eingekeilt zwischen sozialer Norm und wirtschaftlichem Zwang, nichts anderes bleibt als sich resigniert einem hegemonialen System zu unterwerfen? Der französische Historiker und Kulturphilosoph Michel de Certeau hat gezeigt, wie sich »Mr. Nobody« im Dickicht der Zwänge einen Freiraum erkämpft. Die »Kunst des Handelns«, so de Certeau, bestehe darin, in einer geheimen Geste des Entgegenkommens, Elemente des aufgezwungenen Systems ins eigene zu integrieren, wo sie nach Bedarf manipuliert und umfunktioniert werden ohne jedoch dabei die normativen Strukturen zu überschreiben. Was von außen als reine Assimilation erscheint, erweist sich bei näherem Hinsehen als heimliche Subversion. Zu den Taktiken und Listen des Alltages zählt de Certeau beispielsweise das Lesen oder generell den Umgang mit Medien. »Die Lektüre wäre also dort anzusiedeln, wo gesellschaftliche Schichtung (Klassenverhältnisse) und poetische Vorgehensweisen (Textkonstruktionen derer, die damit umgehen) sich überschneiden: die gesellschaftliche Hierarchisierung bewirkt eine Anpassung des Lesers an die ›Information‹, die von einer Elite (oder Halb-Elite) verbreitet wird; die Lesetätigkeit treibt mit der ersteren ihr listiges Spiel, indem sie ihren Erfindungsgeist in die kulturelle Orthodoxie einsickern läßt.«

Was de Certeau nicht erwähnt: schon Wahrnehmen ist eine Form des Handelns. Wahrnehmung entfaltet sich als aktiver Austausch zwischen Wahrnehmendem und Wahrgenommenen, es ist nichts, das einem zustößt oder widerfährt. »Das Sehen«, schreibt der Kunstpsychologe Rudolf Arnheim, »dient dem gewöhnlichen Menschen im gewöhnlichen Leben nur als Orientierungsmittel. Das heißt, grob gesprochen: man sieht von den Gegenständen um sich herum nur soviel, wie man gerade benötigt, um sich ihnen gegenüber richtig zu verhalten.« Was Arnheim über das Sehen als dominanten Sinn sagt, lässt sich auf die Wahrnehmung im Ganzen übertragen: In der Alltagswahrnehmung zählt vereinfacht, ob etwas essbar ist oder der Fortpflanzung dienen könnte. Dahinter hört die Unterscheidung auf. Jenseits des Werkzeugs, der Funktionalität und Triebbefriedigung gibt es kein Interesse. Diese reduzierte und erniedrigende Wahrnehmungsweise ist jedoch keineswegs der »natürliche« oder »normale« Modus, als der er gerne hingestellt wird; den wir alle miteinander teilen, um uns auf einer gemeinsamen Basis über die Welt verständigen zu können. Der Modus der so genannten Alltagswahrnehmung gehört zur »kulturellen Orthodoxie«, er wird systematisch produziert, trainiert und verbreitet. Als Teil eines Nützlichkeits- und Effizienzprogramms dient er dazu, das Individuum auf seine Rolle als Konsument abzurichten. Vor allen anderen Zuchtmethoden, die die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft für die Reproduktion ihrer Normen ersonnen hat, wird das zweckorientierte Wahrnehmungsmodell als Gleichschaltungsinstrument in das von sozio-ökonomischen Zwängen eingekeilte Individuum eingeschrieben. Der erniedrigende Reduktionismus des zweckrationalistischen Imperativs setzt alles daran, das Unbekannte auszuschließen, die Fülle des Daseins, die als Bedrohung erscheint, auf ein schäbiges Mittelmaß herunterzukochen.

Ein helles Gewicht verschiebt die Ereignisse im Fluidum der Metropole.

»Gewöhnliche Fakten sind in der Zeit aneinandergereiht, sie sind auf deren Verlauf gefädelt wie auf eine Schnur … Das gilt auch für eine Narration, deren Seele aus Kontinuität und Sukzession besteht«, schreibt der polnisch-jüdische Dichter Bruno Schulz. »Doch was soll man«, fragt Schulz, »mit den Ereignissen tun, die keinen eigenen Platz in der Zeit haben, … die in der Luft hängen, heimatlos und verloren?« Er entdeckt als Antwort eine »zweigleisige Zeit« mit »parallelen Zeitbahnen«. Der Verweis auf Schulz kommt an dieser Stelle nicht von ungefähr, bezieht sich der Zeichner Dieter Jüdt doch immer wieder auf den 1942 von einem Gestapo-Mann auf offener Straße hingerichteten Dichter – zuerst vor Jahren mit seiner Comicadaption von Die Zimtläden, zuletzt 2008 in Der dreizehnte Monat, einer kurzen Bildergeschichte für die Edition Aeriénne. Auch wenn Verena Postweilers Texte kaum etwas gemeinsam haben mit der barocken Fülle Schulzscher Prosa, so ist die Metapher vom Nebengleis auch hier angebracht. »Seitenarme der Zeit«, die zwar »ein bißchen illegal und problematisch« sind, räumt Schulz ein, worauf aber keine Rücksicht genommen werden dürfe, wolle man »solch überzähliges, nicht einzureihendes Geschehen« befördern. Und er versichert, der Übergang »wird unbemerkt geschehen, der Leser wird keine Erschütterung spüren.« Auch bei Jüdt und Postweiler bemerkt man bestenfalls ein helles Gewicht, welches die Ereignisse im Fluidum der Metropole verschiebt. Sicher ist dies ein künstlerisches Verfahren, dessen Grundlage aber ist ein allen zur Verfügung stehendes Vermögen zur Wahrnehmung. Nur, dass abgesehen von den unter ständigem Rechtfertigungsdruck stehenden Bemühungen der künstlerischen Erziehung, in der naturwissenschaftlich-technizistischen Gesellschaft alles daran gesetzt wird, die Menschen von der Fülle ihrer Wahrnehmung abzuschneiden.

Darum geht es also in den fünfzig Episoden von Das große Rauschen, die auf die Kapitel Im Schatten des Zweifels; Das Kontingent; Unter glühender Sonne; Einmal, heute, endlich und Insomnia verteilt sind. Worum es nicht geht: Es geht hier durchaus nicht darum, urbane Coolness-Mythen nomadischer Globalisierungsbürger zu zelebrieren. Hier wird nicht zum x-ten Male der Berlinhype eines (vermeintlich) unangepassten Lebens gefeiert, das längst zur Wichsvorlage für Marketingstrategen herabgesunken ist und penetrante Identitätsimperative von »Sei Straße, sei Laufsteg, sei Berlin!« über »geschäftstüchtICH« bis hin zu »iPa…, iPo…, iPhhhh!« bedient.

Eine stille Melancholie durchweht die langen, schmalen Seiten – von Dieter Jüdt im Stil klassischer Zeitungsstrips mit gleich großen, auf formale Dramaturgie verzichtende Panels zum schönen Panoramaformat von 35 mal 13 Zentimeter aufgereiht. Diese Kürzestgeschichten aus einer Welt jenseits der Nestwärme – von Verena Postweiler ohne die Ausdruckszeichen »!« und »?« ausgerollt, jede Intentionalität und Affektbesetzung vermeidend. So wirkt sie auch der Geschlossenheit des Episodischen zugunsten einer Kontinuität des Fragmentarischen entgegen. Es entwickelt sich ein potentiell unendlich fortlaufender Strang. Sicher, die Kapiteltrenner sind echte Zäsuren – auf die man vielleicht hätte verzichten sollen. Eigentlich wäre ein Bilderrolle die beste Form für dieses Buch, das man während einer Fahrt mit der Berliner Ringbahn lesen sollte, dabei regelmäßig ausgedehnte Pausen einlegend um den Blick umherschweifen zu lassen.

das grosse Rauschen

Immer wieder geht es um Vergangenes, um Abschied, Verschwinden und unsichtbar Werden, berichten die Episoden von Zerfall und Vergessen. In einer Weise, die stets ihren Zweifel daran zum Ausdruck bringt, ob es vor dem Verschwinden überhaupt ein Gewesenes gegeben hatte. Denn das ist ja das Melancholische: der Verlust als Sein. Da ist die Sängerin einer Band, die vielleicht nach London gegangen ist, was man aber nicht mit Sicherheit sagen kann, da sie einfach auf und davon ist, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Oder die Frau aus Glas. Unsichtbar begleitet sie unsere Wege. Und der Thirtysomething, der einfach nicht da ist, weil er keine Spuren hinterlässt. Allesamt sind sie Schwellenkinder, ortlos irren Sie umher. Am deutlichsten wird dies vielleicht in Aufbruch: eine Reihe von Gedanken über den Start in die urbane Nacht der Clubs und Bars und Abenteuer, die immer ein Versprechen ist. Das letzte Bild schließt mit dem Satz: »Ich wollte bedingungslos, dass alles wartet, jetzt, noch einen Moment.« Diese Nacht – wir wissen es – darf niemals beginnen, der Moment des Aufschubs, der hier »bedingungslos« gefordert wird, muss auf Dauer gestellt werden. Die Nacht muss auf der Schwelle des Aufbruchs verharren. Der Aufschub ist Programm, weil er alles in eine Schwebe bringt, die Hoffnung und Erfahrung ausbalanciert. Indem der ewige Aufschub die Erfüllung vor sich hertreibt, verliert er sie nie. Nur hier gibt es die Erfahrung einer unendlichen Fülle. Daneben verblasst jedes Ereignis. Mit jedem Ereignis und jeder Entscheidung wird das Leben ärmer: nur einen Schritt weiter befinden wir uns jenseits der Grenze zur Nacht, die in dem Moment schon alles verloren hat. Alle Wünsche und Hoffnungen sind getilgt. Jetzt kann uns nur noch der Rausch retten. Doch der wird uns bald wieder verlassen.

Die Schwelle als der Nicht-Ort zwischen da und dort nährt den Zweifel. Der Zweifel aber ist das Gegenteil des positivistischen Wahns einer totalen Erkennbarkeit der Welt. Dass Berlin 2005 monatelang im Zeichen von ZWEIFEL stand, einer Installation des Künstlers Lars Ramberg auf der Ruine des Palasts der Republik (einem gewesenen Ort), kann nur ein großartiges Missverständnis gewesen sein. Kaum vorstellbar, dass dieses elementare Zeichen des Menschlichen im Bewusstsein seiner vollen Bedeutung Zustimmung bei den Entscheidungsträgern der Transparenzgesellschaft (Byung-Chul Han) gefunden hatte. Vermutlich wurde es nur durch die Verblendung einer Siegermentalität ermöglicht, die das Wort lediglich als Kritik sowohl an der untergegangenen DDR wie auch (diffuse gönnerhafte Selbstkritik) am Wiedervereinigungsprozess aufzufassen in der Lage war.

Schwelle, Zweifel, Schwebe, Unruhe. Das große Rauschen zeigt ein Leben als Drahtseilakt – wer ohne Boden unter den Füßen sich bewegt, muss geschickt sein – und der ist bei Dieter Jüdt orange. Orange. Orange. Plastik und Sonnenschein. Eine Folie vor dem Fenster, vielleicht eine Sonnenbrille – der stehende, tote Sommer: Das ist nicht das Orange der Sommerfrische, es ist Götterspeise, die zu lange auf der Heizung gestanden hat! Wer je wahrgenommen hat – und das geht an alle – hach! – so sensiblen Herbstklischeeiker (nicht zu finden bei Google) –, wer je wahrgenommen hat, weiß: melancholisch ist nicht der Herbst, sondern der Sommer. Weil das Jahr auf dem Höhepunkt bereits mit seinem Niedergang infiziert ist und man beim Grillen im Park in lustvoller Angst auf die geringsten Zeichen der Vergänglichkeit lauert. Dieter Jüdt, dessen holziger Stil in der zeitgenössischen Illustration so wohltuend spröde herausragt, hat gut daran getan, für Verena Postweilers Texte auf ein stimmungsvolles Blau oder so zu verzichten. Jüdts kantige Figuren sind ohne sicheren Stand; polygonale Wesen, die bei der kleinsten Berührung in eine andere Lage kippen. Doppelte Konturen, gestrichelte Linien und verschobene Farbflächen verstärken noch den Eindruck einer gewissen Ortlosigkeit. Die Figuren treten häufig ein Stück aus sich heraus, stehen neben sich oder verbreiten sich in ihre Umgebung. Manchmal verschmelzen sie auch damit.

Das große Rauschen: London Calling

Zur Wahrnehmung ebenso wie zum Verlust gehört die Erinnerung. »Das Gedächtnis setzt sich aus einer Vielzahl von Ereignissen zusammen, in denen es sich bewegt, ohne sie zu besitzen« , schreibt de Certeau. Bei Gelegenheit ergreift das Gedächtnis diese Ereignisse und landet einen »Coup«, fügt sie in eine neue Situation ein. Erinnerungen sind Fragmente umfassender Gebilde, die diese Gebilde immer mit sich tragen. Von der Begegnung mit einer Person mag nur der betörende Klang ihrer Stimme erinnert werden, dennoch bleibt sie auf die ganze Person bezogen, man wird keine körperlose Stimme erinnern. »Aber das war sie«, lesen wir in Sommersprossen IV. Mit dieser Phrase landet die »kleine Schwester« im Moment des Abschieds einen Coup. »Aber das war sie« zitiert aus einem Stück, welches ihre ältere Schwester zur Vorbereitung einer Sprechprobe geübt hatte. Die gemeinsame Vergangenheit wird in einer Phrase verdichtet aufgerufen, die alles enthält, an das zu erinnern sich lohnt. »Unser letzter gemeinsamer Sommer bestand aus Fragmenten dieses Stückes, die wir zitierten, pausenlos, leidenschaftlich und mit großem Ernst.« Diese Phrase ist die Metonymie eines ganzen Sommers.

Man darf nun nicht den Fehler begehen, diese Aufmerksamkeit für das Detail als Aufwertung der kleinen Dinge des Lebens misszuverstehen, wie sie von einer kleinbürgerlichen Wohlfühlideologie zur Schönfärbung des Alltags ausgestellt werden. Vielmehr sind es stets vorhandene, aber häufig ignorierte – und verkannte – Atmosphärenbildner, welche den Ereignissen eine ungewohnte Temperatur verleihen. Wenn in Babelsberger Park ein »halbes totes Hähnchen« im Rucksack einen ganzen Ausflug lang durch die Gegend getragen wird, ohne seiner Bestimmung – dem Verzehr – zugeführt zu werden. Statt dessen dort im Dunkel der Tasche schwitzt, ja brütet, wird es zur Metapher einer vergeblichen Anstrengung. Es entsteht eine Fremdheit, die dem bürgerlichen Idyllenzwang vollkommen abträglich ist, die von der Rehabilitierung des Alltags ausgeschlossen ist, da dort das Fremde gewöhnlich eingemeindet, will heißen verkitscht wird. Hier aber ist das Unscheinbare das Fremde im eigenen Haus: das Hähnchen wird zum seltsamen und unheimlichen Wiedergänger einer inszenierten aber nie geglaubten Harmonie und spricht als dunkler Schatten von einem ortlosen Ort im Rücken der Protagonisten. Ein Schatten, der so heiß und kalt ist wie eine Eisscholle in der Mittagssonne.

Das große Rauschen: London Calling

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