»POÈTE MAUDIT« von Andreas Rauth »Good morning, it's 3 a.m. in this great roaring city full of garbage eaters ravaging parking spots beneath my plaza window I see cheetah in their tight skins and tired heels all-night hippo in the diner crossing the street swarthy herds of young impala flambastic gibbon even a struggling monza and over there that brilliant head ornament on that Japanese macaque… it's a sight you're unlikely to see anywhere else on the planet…« King Crimson, Neurotica >>In ihrem 1982 für das Album Beat eingespielten Song Neurotica beschreiben King Crimson die erwachende Metropole als einen Ort grotesker Animalität, der einen unvergleichlichen Anblick bietet: »a sight you're unlikely to see anywhere else on the planet …«. Letzteres mochte man vielleicht vor weit über hundert Jahren auch von Paris behauptet haben, der »Hauptstadt des 19. Jahrhunderts«, wie Walter Benjamin sie genannt hat. Machen wir einen Sprung in den Dezember 1846, Hotel Pimodan, Isle Saint-Louis, Paris: Der Dichter Théophile Gautier, dem Charles Baudelaire seine 1857 erstmals erschienen Blumen des Bösen widmete, worin er ihn als »vollkommenen Magier der französischen Literatur« und seinen »Meister und Freund« bezeichnet, ist auf dem Weg zu einer abendlichen Verabredung. Gautier hat die Ereignisse des Abends in einem Text festgehalten, er schreibt: »lch lenkte den Schritt nach einem entfernten Stadtteil, stille Oase inmitten von Paris, um die der Fluß zwei schützende Arme schließt und sie vorm Eindringen der Zivilisation behüten zu wollen scheint; denn in einem alten Haus der lsle St.Louis, dem von Lauzun erbauten Hotel Pimodan, hielt der seltsame Klub, dessen Mitglied ich zur Zeit war, seine monatlichen Zusammenkünfte ab, zu deren einer ich mich erstmalig hinbegab.« >>Theophile Gautier folgte einer Einladung des Malers Fernand Boissard zum Klub der Haschischesser. Im weiteren Verlauf des Textes schildert er seine Wahrnehmung während der »Fantasia«, wie diese Sitzungen unter dem Einfluss von Haschisch genannt wurden: »Meine Nachbarn fingen an, mir sehr merkwürdig vorzukommen; sie rissen riesige Uhuaugen auf, ihre Nase längte sich zu Elefantenrüssel, ihr Mund zog sich endlos in die Breite. Die Färbung der Gesichter nahm unmenschliche Töne an.« Vor dem Hintergrund dieser Beschreibung bekommt auch King Crimsons Neurotica eine andere Färbung: Großstadt und Rausch verbindet die gemeinsame Kraft zur Verwandlung, zur animalischen Regression. >>Im Hotel Pimodan wohnte zu der Zeit auch der junge Charles Baudelaire, ebenfalls gelegentlicher Gast dieser geheimbündlerischen Séancen. Später wird er zum Autor von Die künstlichen Paradiese, dem neben Thomas de Quinceys 1821 erstmals veröffentlichten Bekenntnisse eines englischen Opiumessers bedeutendsten Beitrag zur Drogenliteratur des 19. Jahrhunderts. In der kurzen Spanne seines Lebens – Baudelaire starb 1867 im Alter von nur 46 Jahren – ist er aber noch sehr viel mehr geworden. Man kann wohl sagen, dass jede der nachfolgenden Generationen mal hineingegrapscht hat ins Dichterleben und Neues enthüllt hat, um ihn anschließend zu verfluchen oder vor ihm in die Knie zu sinken: >>Baudelaire der Dandy, der Verfechter der Künstlichkeit; Baudelaire der Trinker und Opiomane, der Drogenabhängige; Baudelaire der Verweigerer und Bürgerschreck, der Katholizist und Verschwender, Baudelaire der Entmündigte, der Muttersohn, das ewige Kind; Baudelaire der Angst erfüllte, der von der Zeit versklavte, der Satanist; Baudelaire der Moderne; Baudelaire der Ruhelose, der Erstarrte, der in Ruhelosigkeit Erstarrte; der Prokrastinierer; Baudelaire der Frauenverächter, der Verehrer und Voyeur; Baudelaire der Fetischist, der Träumer und Müßiggänger; Baudelaire der Melancholiker, der Denker – oder wie Walter Benjamin sagt – Grübler; Baudelaire der Gelangweilte, der Unbefriedigte, der Lügner, der sein Herz entblößende Lügner; Baudelaire der Bohèmien, das Genie, der Schauspieler und Zyniker; Baudelaire der Kranke, der Leidende, der Syphilitiker; Baudelaire der Genießer, der Bilderverehrer, der Kritiker, der Ästhet; Baudelaire der – wie Sartre sagt – »Perverse«, der – auch das kommt von Sartre – »Willensschwächling«; Baudelaire der Revolutionär, der Schuldige; Baudelaire das Opfer, der Heilige, der Einsame, der Held; Baudelaire der Übersetzer Edgar Allen Poes, der Dichter der Fleurs du Mal, der verurteilte und verfemte Dichter, der »poète maudit«. >>Wer hineinblickt in das Leben von Charles Baudelaire, blickt in ein Kaleidoskop, jenem vermeintlichen Fernrohr, in dem buntes Glas leuchtende Formationen der Unendlichkeit bildet, ohne dass man je weiter als eine Handbreit sehen könnte. Schön, undurchdringlich und auf eine seltsame Art auch schrecklich. Bedrückende Enge verbindet sich mit unendlicher Ferne, die bei jeder Umdrehung anders aussieht. Der Blick ins Kaleidoskop fällt in einen hermetischen Abgrund, ein unendliches Gefängnis. Es ist ein Spielzeug nach Baudelaires Geschmack – vielleicht. Immerzu blickte er in den Abgrund der Zeit, den er überall entdeckte, und der ihn paralysierte: »Ich verbringe meine Zeit damit, über die Kürze des Lebens nachzudenken; sonst nichts …« schreibt er in einem Brief vom März 1861 an seine Mutter. >>Dem Fluch der Zeit versucht er im Rausch zu entkommen, Berauscht Euch ist eines der Prosagedichte aus dem Spleen de Paris betitelt, dessen Anfangszeilen eine Forderung enthält, die keine Widerrede duldet: »Man muß immer trunken sein. Darum geht es: das ist das einzige Gehimnis. Um die Last der Zeit nicht zu fühlen, die eure Schultern zerbricht und euch zu Boden drückt, müßt ihr euch ohne Unterlaß berauschen. Womit aber? Mit Wein, mit Poesie oder Tugend, nach eurem Belieben. Aber berauscht euch.« >>Rausch und Poesie verbindet eine gemeinsame Struktur unkonventioneller Wahrnehmung, für deren Entfaltung die Sphäre des Spiels Basis und Rahmen gleichzeitig abgibt. Sowohl Rausch als auch Poesie sind für den Kulturphilosophen Johan Huizinga, der 1938 seine einflussreiche Schrift Homo ludens veröffentlichte, der Sphäre des Spiels zuzuordnen. In Beiden Fällen behauptet sich eine ästhetische Weltwahrnehmung, die sich dem rein zweckhaft orientierten Gebrauch der Sinne widersetzt. Zudem kann der Rausch Teil des Spiels, ja seine Bedingung sein. Etwa in Form der Maske und des Taumels, wie man sie vom kultischen Ritual kennt. Dessen Dramaturgie hängt eng mit dem Gebrauch von Drogen zusammen, so wenn sich der Schamane unter dem Einfluss von berauschenden Substanzen in ein Raubtier verwandelt. Dass er dabei eine Tierfell trägt ist eher äußerlich, bedeutender ist, dass er Kraft der Droge das Wesen des Tieres annimmt; es ist die Droge, die ihm die Tiermaske verleiht und Erfahrungen einer fremden Welt ermöglicht. >>Nicht nur treten im Rausch, vornehmlich unter dem Einfluss von Drogen, ansonsten verborgene Beziehungen in der Welt zutage, denen eine poetische Kraft innewohnt, auch umgekehrt ist der sich spielerisch entfaltenden Poesie häufig eine rauschhafte Stimmung anzumerken. Die ästhetische Produktion ist grundsätzlich zum Rausch hin geöffnet, weil die diesem zugrunde liegende Stimulation der Sinne eine Sensibilisierung hervorruft, die bereits als Voraussetzung für jene gilt. Rausch und Poesie sind gleichermaßen zur Syntheseleistung befähigt. Es geht nicht um die Beflügelung der poetischen Imagination durch den Rausch, sondern um die Ähnlichkeit der poetischen Wahrnehmung mit der drogeninduzierten. Baudelaire unterstellt dem Dichter eine ständig berauschte Existenz. Unter diesen Voraussetzungen wirkt die Affinität der Dichter zu den Drogen als geradezu selbstverständlich. Und der Autor der Blumen des Bösen steht mit seiner Sucht wahrlich nicht allein in der Geschichte: vor ihm sind Samuel Taylor Coleridge, Thomas de Quincey, nach ihm Georg Trakl, Gottfried Benn, Stanislaw Witkiewicz, Aldous Huxley, William S. Burroughs u. v. a. >>Der mit einer besonderen Sensibilität ausgestattete Dichter ist gewissermaßen auch schon immer selbstberauscht, seine eigene Droge, seine eigene Überhöhung, könnte man sagen. Baudelaire sah im Dichter den intelligenten Menschen schlechthin und einen Vermittler zwischen der göttlichen und der menschlichen Sphäre; einen, der in der Lage ist, die Zeichen der göttlichen Welt zu erkennen, zu lesen und dem Volk mitzuteilen. Der Dichter wird entsprechend von den Göttern bevorzugt. Baudelaire hat in dem Gedicht Segen, dem ersten der Fleurs du Mal, die dichterische Existenz in dieser Weise beschworen. Er wollte selbst wie ein antiker Dichter gelesen werden. Johan Huizinga schreibt, »die älteren griechischen Dichter haben alle noch eine starke soziale Funktion. Sie sprechen als Erzieher und Mahner zu ihrem Volk.« Und weiter heißt es, »das Gedicht ist noch die natürlichere Ausdrucksweise, sobald es sich um höhere Dinge handelt.« >>Diese Ansicht hat sich Baudelaires Werk in einer Theorie der »Correspondances« – »Übereinstimmungen«, wie auch eines der berühmtesten Gedichte aus den Blumen des Bösen betitelt ist, eingeschrieben. Die »Übereinstimmungen« sind geprägt vom Ideal der Ganzheit, einem ungebrochen einheitlich wirkenden Prinzip in allen Dingen, das in immer wieder neuen Manifestationen auftritt. |
Dokumentation »Poète maudit« >> Beteiligte Künstler 2011 / Ausstellung >> Beteiligte Künstler / Rahmenprogramm >> Essay: »Poète maudit«, Vortrag zur Ausstellungseröffnung
>>Wo der zweckhafte Gebrauch der Sinne seine Gültigkeit verliert, beginnt das unwiderstehliche Reich der Verschwendung. »Der Begriff Poesie«, schreibt George Bataille, »der die am wenigsten verdorbenen, am wenigsten intellektualisierten Ausdrucksformen eines Verlorenseins bezeichnet, kann als Synonym von Verschwendung angesehen werden; Poesie heißt nämlich nichts anderes als Schöpfung durch Verlust.« An dieser Schöpfung hat die Einbildungskraft einen maßgeblichen Anteil und folglich auch an der Verschwendung und dem Verlorensein. Bei Baudelaire wird dies nirgendwo deutlicher als im Bild vorüberziehender Wolken. Der Fremdling – ein Titel aus den Spleen de Paris und als solcher sich Baudelaire wohl selbst empfand – findet in den Wolken seine Zuflucht, ihnen gilt seine einzige Liebe. In dem Text heißt es: »Ich liebe die Wolken … die ziehenden Wolken … dort … dort in der Ferne … die wunderbaren Wolken!« Die Einbildungskraft war ihm heilig, er nannte sie die »Königin der Fähigkeiten«. >>Die Nobilitierung der Einbildungskraft findet man aber bereits gut zwei Generationen vorher bei Friedrich Schiller. Für ihn ist die sich im Spiel entfaltende Freiheit der Einbildungskraft wesentlicher Ausdruck des ganzen Menschen. In seiner ästhetischen Existenz, die ihn über ein bloß materielles Dasein erhebt und gleichzeitig die Welt des Scheins als dessen genuine Sphäre eröffnet, entfaltet der Mensch spielend sein Potential. Die ebenso bündige wie berühmte Schlussfolgerung seiner Überlegungen lautet, »der Mensch […] ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.« >>Das Leben, hat Baudelaire in seinen Tagebuchaufzeichnungen geschrieben, sei nur als Spiel interessant. Er, der, wie man mit einer Formulierung von Georges Bataille sagen kann, ein Leben »am Rande des Schreckens« führte, war ein Spieler. Wenngleich er wohl nicht dem Spiel, dem Glücksspiel, verfallen war, zählt die Auseinandersetzung mit dem Spiel zu den durchgehenden Themen in Werk und Leben. Schon Poesie ist, wovon eben die Rede war, ihrem Wesen nach Spiel. Das Kind, mit dem Baudelaire den Künstler identifiziert, es spielt. Der Dandy, natürlich ein Spiele, und Sartre erkennt in Baudelaire den Schauspieler: »Sich verkleiden: das ist Baudelaires Lieblingsbeschäftigung. Körper, Gefühle und Leben verkleiden. Er jagt nach dem unerreichbaren Ideal, sich selbst zu erschaffen«. Bei Walter Benjamin erfährt man von Baudelaires Verkleidungslust aus einer Äußerung Gustave Courbets, der den jungen Dichter portraitierte: »Courbet«, schreibt Benjamin, »klagt als er ihn malt darüber, Baudelaire sehe jeden Tag anders aus.« Der Rausch, dem der Dichter so zugetan war, ist ein Spiel mit der Wahrnehmung und die Großstadt, die er für die Poesie entdeckte, was ist sie anderes als ein gigantisches Spielfeld? >>In der modernen Großstadt Paris findet er das Material für seine Kunst, die ihn bis zu uns getragen hat. Paris hatte für ihn antike Größe, er liebte die Radierungen von Charles Meryon, auf denen die Metropole wie aus Trümmern auferstanden wirkt. Bilder der Ewigkeit, erhabenes Sein. Dieses erhabene Sein bleibt sein lebenslanges Ziel: aus sich selbst heraus existieren, seine eigene Schöpfung zu sein. Und er hat dieses unabhängige Sein selbst noch aus den kleinen, abgenutzten, weggeworfenen Dingen destilliert, den Resten einer vom Fortschrittsglauben trunkenen kapitalistischen Gesellschaft. Als Tätigkeit eines Lumpensammlers beschreibt er das Dichterwerk im Schein einer unbarmherzig brennenden Sonne:
Will durch die Vorstadt mit verfallenen Häusern ziehn, (Die Blumen des Bösen: Die Sonne)
>>Dichter und Lumpensammler. Beiden gibt Baudelaire Gestalt, sie werden bei ihm zu Synonymen, gehören einer Klasse an. Das heilige Spiel der Verschwendung – in einer Gesellschaft die sich zweckrationalem Handeln und technisch-naturwissenschaftlichem Fortschritt unterwirft, die den Menschen verdinglicht und funktional zerstückelt, wird der Poet und wird auch Schillers »ganzer Mensch« zum Ausgestoßenen. >>Die Dichtung musste im 19. Jahrhundert nicht nur ihren Platz an der Spitze der Künste räumen, den sie seit der Antike bis Schiller und Kant noch innehatte, sie verlor ganz allgemein ihre gesellschaftliche Bedeutung. Nach der bürgerlichen Revolution, nach dem Untergang der Adelsklasse, die in ihrem Namen den Dichter – gleich welcher Herkunft – über die Bourgeoisie hinweg aristokratisierte, problematisierte sich dessen soziale Stellung. »[D]as Bürgertum [stand] im Begriffe […], seinen Auftrag an den Dichter zurückzuziehen«, schreibt Walter Benjamin. Daher konnte Baudelaire in seiner Verbitterung und seinem Hass auch schreiben: »Wenn ein Dichter vom Staat das Recht verlangte, einige Bürger in seinem Stall halten zu dürfen, würde das große Verwunderung erregen; wenn jedoch ein Bürger ein Stück gebratenen Dichter verlangte, würde man das ganz natürlich finden.« Der Dichter hatte seinen gesellschaftlichen Adel verloren. >>Die Folge: Baudelaire verbrüdert sich mit den anderen Ausgestoßenen, den Huren und Bettlern, den Trinkern, Spielern, den schäbigen Alten. Am Rande der Gesellschaft wird der Dichter zum »poète maudit«. Und Baudelaire bezieht die Position des Anderen schlechthin: dem Bösen. Noch einmal Sartre: »Stolz und besiegt, durchdrungen von dem Gefühl seiner Einzigkeit im Angesicht der Welt, gleicht Baudelaire sich im tiefsten Herzen Satan an. Und vielleicht ist der menschliche Stolz nie weiter gelangt als bis zu diesem immer erstickten, immer zurückgehaltenen Schrei, der durch das ganze Werk Baudelaires klingt: »Ich bin Satan!«
Vortrag gehalten am 26. August 2011, anlässlich der Ausstellungseröffnung »Poète maudit« Charles Baudelaire. Eine Hommage zum 144. Todestag, in der Galerie erstererster, Berlin (Foto).
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