Wo wir sehen, sind wir dabei

Wer die Geschichte kennt, weiß, dass sie zur Interpretation einlädt; welche Schwierigkeiten dabei zu überwinden sind, lassen sich auch erahnen. Denn E. T. A. Hoffmann lässt nicht einfach nur einen Erzähler die Geschehnisse von Anfang bis Ende und der Reihe nach schildern. Neben dem Erzähler der eigentlichen Geschichte, äußern sich die Protagonisten teils in direkter, teils in indirekter Rede. Manche werden selbst zum Erzähler, wie der zu Unrecht angeklagte Olivier Brusson. Zudem wird der Leser noch über die Pariser Giftaffäre von 1675–82 informiert – eine zwar interessante Episode, die entscheidende Hintergrundinformationen liefert, allerdings den zeitlichen Ablauf der Erzählung unterbricht und auch stilistisch eher die Form eines kommentierenden Berichtes hat.

Entscheidend für deren gelungene Umsetzung in eine Graphic Novel ist der richtige Umgang mit der Bildebene, die mit ihrem besonderen Zeichencharakter den wesentlichen Unterschied zur sprachlichen Erzählung ausmacht. Denn das Bild macht uns zum Zeugen des Geschehens. Nicht mehr vermittelt durch die Rede eines Erzählers, nehmen wir die erzählte Handlung war. Der Künstler zeigt im Bild seine Version der vom Erzähler geschilderten Handlung. Wir sehen, vermittelt durch den Künstler, was der Erzähler oder eine Figur der Handlung (in der Narratologie als Fokalisierungsinstanz bezeichnet) wahrnimmt. Wohl blicken wir auf das Bild von außen, aber der Blick der sich uns bietet, ist der des Künstlers als unser eigener.

Die fremde Wahrnehmung wird zu unserer eigenen. Und wo wir sehen, sind wir dabei. Das bedeutet auch, dass das Bild immer unsere Gegenwart ist, ungeachtet der zeitlichen Lokalisierung der darin zur Darstellung kommenden Ereignisse. Und ungeachtet des im Erzähltext auszumachenden Erzählers, der nämlich geht auf in der vom Bild angebotenen Wahrnehmungsillusion. Ist ein Erzähltext der Bericht von Wahrnehmungen, so ist der Bildteil einer Graphic Novel die Wahrnehmung selbst. Die Aufgabe, vor die sich Autoren einer Graphic Novel gestellt sehen, ist also keine einfache, gilt es doch, die unterschiedlichen Erzähldimensionen in den Griff zu bekommen, und dabei die Besonderheiten des eigenen Mediums möglichst geschickt anzuwenden.

Drushba Pankows Arbeit kennzeichnet vor allem die Verwendung unterschiedlicher Zeichenstile. In der Haupterzählung kommt eine Mixed media-Technik mit texturierten Hintergründen zum Einsatz, in die Details zum Teil hingezeichnet, zum Teil collagiert bzw. aufgelegt sind. Insgesamt verwenden sie viel schwarz in den Schatten, die Farbe füllt die Zeichnung flächig und oft genug auch ohne Wirklichkeitsbezug; im Ergebnis ähnelt das einem kolorierten Stich oder Schwarzweiß-Fotografie. Allerdings bleiben immer wieder Lücken mit dem blanken Gerüst der Zeichnung stehen. Drushba Pankow sorgen sich nicht darum, den Prozess des Bildermachens vor dem Betrachter zu verbergen. Zudem lassen die stilistischen Mittel Rückschlüsse auf die Autoren zu, sie verweisen indexikalische auf den Prozess des Zeichnens und damit auch auf die Autoren. Gerade in den unfertig wirkenden, nur andeutenden Linien oder aus realem Material bestehenden Texturen ist die Präsenz der Bildautoren wahrnehmbar. So ensteht in etwa eine Wirkung vergleichbar mit dem Eindruck eines Romanlesers, er wohne aktuell dem Erzählvorgang bei.

Die Ausformulierung der Szenen ist Aufgabe der Zeichnung. Farbe wird, wie gesagt, flächig aufgetragen und in den Hintergründen folgt sie nur selten den gezeichneten Formen. Sie tritt, von darstellenden und narrativen Aufgaben weitgehend befreit, fast ungehindert als Eigenwert auf – wenn auch kaum einmal ohne brechende Textur. Gelegentlich steht die Farbe aber auch im Dienste eines einheitlichen Stimmungsraums, etwa um eine Szene in nächtliches Grauschwarz zu tauchen. Doch selbst in diesen Fällen narrativer Koppelung, drängt sie noch zur Autonomie, wenn sie, gegen die perspektivische Zeichnung aufgetragen, mehr grauschwarz als Nacht ist. Im Ergebnis wird die räumliche Illusion abgeschwächt, damit einher geht eine Verknappung des erzählerischen Tiefenraums. Kurz gesagt: es wird bühnenhaft. Für ein Kammerspiel wie dieses durchaus unproblematisch, der intime Charakter wird sogar noch unterstützt.

Anleihen beim Animationsfilm

Eine Besonderheit der eingeklebten oder aufgelegten Elemente sind die in einzelne Segmente zerlegten Körper der Protagonisten. So lassen sie sich wie beim Legetrick im Animationsfilm nicht nur leicht in Position bringen, die Verfügbarkeit der Protagonisten als auf Karton gezeichnete Gliederpuppen vereinfacht ebenso die Darstellung von Bewegungsabläufen. Häufig werden mehrere Phasen gleichzeitig hintereinander gefügt, wobei meist die Panel- und gelegentlich auch die Seitengrenzen überschritten werden.

Gerade wegen der dafür typischen Steifigkeit und eingeschränkten Ausdruckskraft fügt sich die eigenwillige Ästhetik der Gliederpuppen gut in Hoffmanns literarische Welt. In berühmt gewordenen Erzählungen wie Die Automate oder Der Sandmann hat er die seit dem Barock bis ins frühe 19. Jahrhundert beliebten, häufig musizierenden Menschen-Automaten literarisch verarbeitet; dort treten sie als unheimliche Wiedergänger fleischlicher Jungfräulichkeit auf, fähig die erotische Phantasie sensibler Jünglinge bis in den Wahnsinn zu steigern. Und im barocken Kontext der Scuderi lassen sich weitere Bezüge finden: Das höfische Zeremoniell, die Etikette, die unendlichen Vorschriften – sie können als komplizierte soziale Mechanik, als Unterwerfungstechnik aufgefasst werden.

Unbedingt hervorzuheben sind die gezeichneten Textelemente: Neben den den Erzähltext enthaltenden Textrahmen gibt es, wie schon erwähnt, einzelne gezeichnete Wörter oder kurze Formulierungen, welche sich mit ausgeprägten Tiefenlinien und harten Schatten plastisch vom Bildgrund abheben. So wird der Text zur architektonischen Proklamation mit maximaler Plakativität.

Stilwechsel

Ihre Bildkompositionen statten Alexandra Kardinar und Volker Schlecht mit Zitaten aus der modernen Medienkultur und dem Leben der Jetztzeit aus – gleich zu Beginn ist, in der Rolle des Dieners Baptiste, Steve Buschemi zu sehen, später dann Arnold Schwarzenegger alias Graf Miossens, Gerard Depardieu alias Polizeilieutnant Desgrais und Bob Geldof hat einen kleinen Einsatz als Einflüsterer des Königs. Alfred Hitchcock wird mit seinem Cameo-Auftritt aus Die Vögel zitiert und – eine Anspielung auf das gemeinsame Genre der Kriminalgeschichte? – »Harry« soll den Wagen holen. Demonstranten mit Transparenten und Digitalkameras fordern die Freilassung Oliviers, Kinder spielen mit modernem Kriegsspielzeug in den Gemächern des Königs, irgendwo liest man neben der Zeichnung eines Hundes »Un Chien andalou«, usw. Das ist nicht nur charmant und unterhaltsam, es verleiht der Geschichte eine gewisse Aktualität, was durchaus schlüssig ist, steht der 1776 geborene Hoffmann mit seinem Werk doch am Anfang moderner Massengesellschaften und ihrer medial vermittelten Wirklichkeit. Auch kann die historische Madeleine de Scudéry dank des Königs Begeisterung für ihre Dichtung als eine Art früher Star gelten.

Für die Darstellung des Exkurses über die Pariser Giftaffäre 1675–82 wechseln die Zeichner zu einer an Arznei-Verpackungen orientierten schematischen Darstellung unter Verwendung bekannter Piktogramme. Hier wird das nüchterne Schwarzweiß nur mit wenigen roten Farbstrichen für Gefahr und Tod symbolisch markiert.

Dem aus der Erinnerung wiedergegebene Lebensweg des Angeklagten Olivier Brusson tragen Drushba Pankow ebenfalls auf eigene Weise Rechnung. Eine vereinfachte, im strengen Raster angelegte Bildsprache, farblich reduziert und mit Hang zur grotesken Überzeichnung vermittelt die biographischen Details. Hier sind die Zeichnungen naiver und deutlicher im Ausdruck. Dadurch und dass häufig die Panels mit einer Naheinstellung ausgefüllt sind, die sich so dicht an den Rahmen drückt, dass dieser sie nur mühsam zu halten scheint, wird eine Atmosphäre der Unmittelbarkeit erzeugt, die dem Bericht Authentizität verleiht. Nur wenige Sprechblasen kommen hier zum Einsatz, dafür läuft die Bildunterschrift – übrigens in französisch – unter Missachtung der Panelgrenze als Spruchband darunter her , die Einzelbilder geschickt an den fortlaufenden Erzählfluss bindend.

Gerade am Wechsel der Stile wird deren narrative Wirkung erkennbar: Eine detaillierte realistische Darstellung erzählt anders als eine grafisch reduzierte, eine farbige anders als eine schwarzweiße usw. Zeit, Raum, Atmosphäre, Erzählzusammenhänge bekommen durch den wechselnden Zeichencharakter der visuellen Elemente immer einen anderen Schwerpunkt, erscheinen mal näher, mal distanzierter. So erntet man aus dem Stilwechsel erzählerische Varianz und Tiefe, und die Medialität des Bildes kommt als Metaebene dabei automatisch zum Tragen. Brüche, Reduktion, Verzicht auf einen einheitlichen Bildraum und Kombination ungleichzeitiger Elemente reduzieren den Illusionismus zugunsten einer Aktivierung der Vorstellungskraft. Abstraktion erweist sich als ein Mittel großer Offenheit und unendlicher Variationsbreite für die visuelle Narration. Schon in ihrem im Jahr 2009 erschienen Buch über das amerikanische Label Motown, The Soul of Motown, hat das Gestalterteam diesen Collagestil mit Grandezza vorgeführt. Dort aufgrund des größeren Formats sogar noch wirkungsvoller als hier. Sich passiv den Bildern zu überlassen ist praktisch ausgeschlossen. Drushba Pankow haben die Gelegenheit genutzt »selbst zu denken«, an den Leser ergeht die stillschweigende Aufforderung, es ihnen gleich zu tun.

Mit Johann Heinrich Ramberg (1763–1840), dem ersten Illustrator der Scuderi, sei Hoffmann nicht zufrieden gewesen, heißt es in einem der weißen Textfelder. Dessen Arbeiten, so ist dort zu lesen, galten dem Autor, der selbst über nicht wenig Zeichentalent verfügte, als »fabrickmäßige Manier der gewöhnlichen Taschenbuchzeichner«. Wie E. T. A. Hoffmann das Experiment der vorliegenden Graphic Novel beurteilt hätte, darüber lässt sich nur spekulieren, auszuschließen ist wohl, dass er es »fabrickmäßig« genannt hätte.

E. T. A. Hoffmann: Das Fräulein von Scuderi
Graphic Novel von
Alexandra Kardinar &Volker Schlecht
Frankfurt am Main, Wien und Zürich: Büchergilde Gutenberg 2011 Mit Originaltext in einem Band Gebunden mit Schutzumschlag, 21,4 x 15,2 cm, 160 Seiten
€ 24,90 / CHF 32,90
www.edition-buechergilde.de | www.drushbapankow.de


Alle Abbildungen © 2011 bei Büchergilde Gutenberg und Drushba Pankow. Fotos © Drushba Pankow.

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