Scham. 100 Gründe rot zu werden

Leben wir in schamlosen Zeiten? Nackte Körper umgeben uns überall, in den Sozialen Medien gibt man noch seine letzten Geheimisse preis und mit Begeisterung fremdschämt man sich für die Peinlichkeiten anderer. Aber die Scham hat nicht an Bedeutung verloren, sondern wechselt lediglich ihre Gestalten – so die Grundthese dieser von Daniel Tyradellis kuratierten Ausstellung.

Mit dem Gefühl der Scham sind wir von klein auf vertraut, und auch als Erwachsene begegnen wir ihr in den unterschiedlichsten Situationen immer wieder. Kaum jemand wird sich allerdings gerne schämen – im Gegenteil: Scham ist ziemlich unangenehm. Vielleicht lohnt es sich gerade deswegen, einmal genauer hinzuschauen, was es mit diesem Gefühl auf sich hat. Meist überfällt die Scham uns ganz unmittelbar, ohne dass wir lange nachdenken müssten, warum wir uns schämen. Und löst dabei ausgesprochen körperliche Reaktionen aus: Wir beginnen zu schwitzen, werden rot oder verbergen unser Gesicht.

Die Gründe, wofür und wie sehr wir uns schämen, können von Mensch zu Mensch ganz andere sein. Scham ist aber weit mehr als ein bloß subjektives Gefühl. Psychologie und Soziologie haben sie inzwischen als ein zentrales Gefühl bei der Ich-Entwicklung entdeckt und als eines der wirksamen Regulative von Gesellschaft analysiert. Denn Scham ist der soziale Affekt schlechthin: In ihr verhandelt sich das Verhältnis von Individuum und Kollektiv, von Zugehörigkeit und Ausgrenzung, Norm und Abweichung – und sie begleitet uns ein Leben lang.

Die Fähigkeit, Scham zu empfinden, scheint von Natur aus im Menschen angelegt, auch wenn ihre jeweilige Ausprägung kulturabhängig ist. Die Ausstellung nähert sich dem Phänomen Scham deshalb konsequent interdisziplinär und bezieht unterschiedlichste wissenschaftliche Perspektiven ebenso ein wie Werke historischer und zeitgenössischer Kunst. In einem Parcours von einhundert Gründen und Anlässen der Scham beleuchtet sie dieses schillernde Grundgefühl aus Perspektiven unterschiedlicher Intensität – vom trivialen Pups bis hin zur existenziellen Scham darüber, der zum Massenmord fähigen Gattung Mensch anzugehören.

Videos zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler beschäftigen sich mit Menschen in peinlichen und schamhaften Momenten, die oft mit tradierten Rollenmustern, Geschlechterklischees und kontextabhängigen Erwartungen zu tun haben. Ferhat Özgürs Video It’s time to dance now zeigt eine vollkommen verschleierte Frau, die ausgelassen zu Techno-Musik tanzt, und stellt so Geschlechterrollen und Vorstellungen von Scham und Schamlosigkeit zur Disposition. Als Markierungen der zentralen Themenfelder begegnen die Besucher im Verlauf ihres Rundgangs zwölf Skulpturen. Das Spektrum reicht von antiken Plastiken (z.B. die klassische Pudor-Geste der Venus Medici) über ethnologische Schaufiguren (Thema: Ethnozentrismus und Rassismus) bis hin zu einem interaktiven Roboter, der die Frage stellt, ob es ein Jenseits der Scham gibt. Jede dieser Skulpturen materialisiert auf ganz unterschiedliche Weise den menschlichen Körper als Kreuzungspunkt der Natur und Kultur des Schamempfindens und stellt die Besucher vor die Frage, was Scham zu dem vielleicht menschlichsten aller Gefühle macht.

Teilnehmende Künstlerinnen und Künstler: Nobuyoshi Araki (*1940), Kurdwin Ayub (*1990), Leigh Bowery (1961–1994), Jörg Buttgereit (*1963), VALIE EXPORT (*1940), Christian Jankowski (*1968), Terence Koh (*1977), Leigh Ledare (*1976), Victoria Lomasko (*1978), Alex McQuilkin (*1980), Olaf Metzel (*1952), Erik van Lieshout (*1968), Ferhat Özgür (*1965), Dennis O’Rourke (1945–2013), Bruce Richards (*1948), Rokudenashiko (*1972), Joanna Rytel (*1974), Sašo Sedlacek (*1974), Jan M. Sieber (*1975) und Ralph Kistler (*1969), Thomas Schütte (*1954), Helmut Schwickerath (*1938), Miroslav Tichý (1926–2011), Phillip Toledano (*1968), Oliviero Toscani (*1942), Danh Vo (*1975), Marie Voignier (*1974)

Begleitpublikation
Scham. 100 Gründe, rot zu werden
Herausgegeben von Daniel Tyradellis für das Deutsche Hygiene-Museum
Wallstein Verlag, Göttingen
2016, 212 Seiten, 19,90 €
Literarische Miniaturen von Quentin Crisp, Jacques Derrida, Didier Eribon, Frantz Fanon, Pierre Klossowski, Primo Levi, Karl Marx, Anja Meulenbelt, Terézia Mora und Friedrich Nietzsche

Essays von Claudia Benthien, Peter Conzen, Iris Därmann, Karin Harrasser, Ute Frevert, Andrea Köhler, Sophie Plagemann, Jean Louis Schefer, Johanna Stapelfeldt, Daniel Tyradellis und Katherina Thomas Zakravsky.

  • Deutsches Hygiene-Museum
    Lingnerplatz 1, 01069 Dresden
  • Öffnungszeiten: Di–So und Feiertage, 10–18 Uhr
  • www.dhmd.de