Anlässlich des 150. Geburtstages von Aby Warburg (1866-1929) zeigt das ZKM | Karlsruhe eine vollständige Rekonstruktion seines Bilderatlas in Originalgröße. Erstmals werden alle Tafeln mit einem ausführlichen Kommentar versehen. Zwei der insgesamt 63 Tafeln können außerdem das erste Mal seit 1929 wieder exakt so ausgestellt werden, wie Warburg selbst sie vor Augen hatte: mit den Originalabbildungen aus dem Warburg-Institute in London. Darüber hinaus werden 13 »Künstlertafeln« zu sehen sein, die von zeitgenössischen KünstlerInnen zu diesem Anlass erstellt wurden: Linda Fregni-Nagler, Andy Hope 1930, Sarah Lehnerer, Jochen Lempert, Jannis Marwitz, Paul McCarthy, Olaf Metzel, Matt Mullican, Albert Oehlen, Tal R, Elfie Semotan, Christian Vind und Peter Weibel. Diese Aktualisierung der Tafeln veranschaulicht, dass der Bilderatlas in künstlerischen Kreisen weitaus größere Resonanz und Anerkennung fand als in der kunsthistorischen Fachwelt. Aby Warburg. Mnemosyne Bilderatlas schließt an die Ausstellung ATLAS – How to Carry the World on One’s Back, kuratiert von Georges Didi-Huberman, an, die mit großem Erfolg 2010 im ZKM gezeigt wurde.
REKONSTRUKTION: Der Mnemosyne-Bilderatlas im Originalformat
Der Mnemosyne-Bilderatlas, der zwischen 1924 und 1929 von Warburg zusammengestellt wurde und unvollendet blieb, ist benannt nach Mnemosyne, der griechischen Göttin der Erinnerung und Atlas, der als Ahnherr der Astronomen und Geografen gilt. Zugleich steht der Begriff »Atlas« für anschauliche Formen von Wissen: sei es die Zusammenstellung geographischer Pläne zu einem geschlossenen Kartenwerk, sei es eine Konstellation von Bildern, die auf ebenso systematische wie kritische Weise ganz unterschiedliche Hinweise und Gebiete verknüpft. Der Mnemosyne-Atlas hat mittlerweile den Status einer Legende mit Weltruhm und ist mindestens ebenso bekannt wie Warburgs Bibliothek, die seit 1933 in London beheimatet ist. Obwohl der Atlas für die Bildwissenschaft – wie auch die Fachwelt inzwischen einräumt – von außerordentlicher Bedeutung ist, fand er in der Kunstgeschichte keine praktische Anwendung, weder Nachfolger noch Nachahmer. Tatsächlich ruht der Atlas immer noch weitgehend unerforscht im Archiv der Wissenschaften, wenn auch das Interesse an Warburgs Forschungen in den vergangenen Jahren spürbar zugenommen hat – wie die internationale Resonanz auf den Kongress zur Feier des 150. Geburtstags des Hamburger Kulturwissenschaftlers in London im Juni 2016 deutlich machte.
Zum Teil muss die erstaunlich lange Wirkungslosigkeit des Atlas wohl dem unvollendeten Zustand zugeschrieben werden, in dem Warburg sein Spätwerk hinterließ, als er im Oktober 1929 einer Herzattacke erlag. Er hatte in seinen letzten Lebensjahren alles daran gesetzt, seine umfassenden Kenntnisse der Bildgeschichte in diesem Projekt zu verdichten und in eine publizierbare Form zu bringen. Es war ein ungewöhnliches Unterfangen und die Erfindung eines Instruments, für das es keine wirklichen Vorläufer gab. Er selbst war auf seinem Weg schon sehr weit vorangekommen, doch nach seinem Tod »verschwanden« die »originalen« Tafeln in der Fotosammlung seiner Bibliothek. Schon die Verwalter seines wissenschaftlichen Erbes hatten bis 1937 vergeblich versucht, das Projekt zu einem Abschluss zu bringen und die Tafeln als Folioband zu publizieren. Es vergingen etliche Jahrzehnte, bis Warburgs Spätwerk wieder ins Bewusstsein der Forschung zurückkehrte.
Da Warburg den Atlas fotografisch dokumentieren ließ, konnte er vor gut 20 Jahren in »verkleinerter Form« publiziert werden. Danach blieb er weitgehend ungenutzt, denn die Aktivierung dieser Erinnerung fordert eine unabdingbare Voraussetzung: die Sichtbarkeit aller Details. Nur die Rekonstruktion im Originalformat von 170 x 140 cm ermöglicht, dass die Einzelbilder (pro Tafel um die 30 / insgesamt knapp 1000) so studiert werden können, dass die Konstellationen jeder Tafel lesbar werden. Die Rekonstruktion im Originalformat wurde von der Forschungsgruppe MNEMOSYNE im 8. Salon (Hamburg) auf der Grundlage der Daten von Daedalus (Wien) durchgeführt. Die Forschungsgruppe (Roberto Ohrt, Christian Rothmaler, Philipp Schwalb, Axel Heil u. a.) begann 2011, Tafel für Tafel im Originalformat zu erstellen, um die 63 Tafeln Schritt für Schritt en détail zu erforschen. Bis 2016 konnte ein Kommentar erstellt werden, der erstmals jede einzelne Tafel dekodiert. Neben der Rekonstruktion dieser 63 Tafeln des Atlas im Originalformat zeigt die Ausstellung im ZKM erstmals seit 1929 auch zwei Tafeln (die Tafel 32 zum Thema »Karneval« und die Tafel 48 zur »Fortuna«) mit den Abbildungen, die Warburg selbst verwendet hat. Diese »Exponate« konnten in der »Photographic Collection« des Warburg Institutes in London lokalisiert werden. Bislang war die Forschung davon ausgegangen, dass die Originalbilder des Atlas verloren seien.
KOMMENTAR
Mit Aby Warburg. Mnemosyne Bilderatlas im ZKM wird erstmals der Kommentar der Forschungsgruppe MNEMOSYNE zu allen 63 Tafeln und zur Struktur des Atlas zur Diskussion gestellt. Die Ausstellung ergänzt die Reihe der 63 Tafeln um einige Vorschläge, wie der Atlas vervollständigt werden könnte. Der Fokus wird außerdem auf die Forschungsgemeinschaft gerichtet, in deren Mitte der Atlas entstand: das fachübergreifende Team, das in der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg in den 1920er Jahren zusammenkam: Fritz Saxl, Erwin Panofsky, Ernst Cassirer, Gertrud Bing, Edgar Wind, Raymond Klibansky – um nur die bekanntesten Mitglieder zu benennen. Warburgs Bibliothek hatte als Laboratorium für eine moderne Kulturwissenschaft eine ähnlich große Bedeutung, wie das Bauhaus auf dem Gebiet der Kunst und des Designs.
Der Mnemosyne-Bilderatlas wird seit 2011 von der Forschungsgruppe MNEMOSYNE (Hamburg, Karlsruhe, St. Gallen) im 8. Salon in Hamburg rekonstruiert. Einzelne Sequenzen von vier bis sechs Tafeln wurden genau analysiert, um sie dann im Rahmen von öffentlichen Veranstaltungen zu erklären. Ergänzend zu diesen Veranstaltungen waren 13 Ausgaben der Heftreihe Baustelle erschienen, in denen die Forschungsergebnisse nachzulesen sind. Die Hefte gewährleisten, dass die Entschlüsselung des Atlas auch über die Veranstaltungen hinaus nachvollzogen und fortgeschrieben werden kann. Für die Ausstellung werden die Hefte in überarbeiteter Form neu aufgelegt.
AKTUALISIERUNG: Warburg heute!
Die Mnemosyne-Bilderreihe ist vorwiegend chronologisch aufgebaut und folgt den – wie Warburg sie nannte – »Wanderstrassen« der »Bilderfahrzeuge«, auf denen der Umbruch in die Renaissance stattfand. Sie verbreiteten die neue bewegende Bildsprache in ganz Europa, eine Geschichte voller Konflikte und Konfrontationen, die auf dem Feld der Tafeln wie auf der Bühne eines Theaters nachgestellt sind. Die offene Aufstellung aller Tafeln in Lichthof 1 + 2 ermöglicht, die vielschichtigen Verbindungen innerhalb des Atlas nachzuvollziehen. Der Transfer der künstlerischen Vorstellungen, die als eine Art unberechenbare Bildergeschichte – fragmentarisch, aber auch offen zugleich – beschrieben werden können, verbindet die Ausstellung in besonderem Maße mit den Forschungen im ZKM und der Hochschule für Gestaltung (HfG), die die Geschichte der Kunst und der Medien unter aktuellen Fragestellungen untersuchen.
Der Begriff der »Bilderfahrzeuge« entspricht einer Idee, die heute mit den Schlagworten iconic turn oder pictorial turn wieder hoch im Kurs steht. Warburgs Vorstellung von Bildträgern und -medien als »Fahrzeuge «, auf denen Botschaften, Formen und Figuren durch die unterschiedlichen Kontexte getragen werden, steht im Mittelpunkt der praktischen Recherchen von zeitgenössischen KünstlerInnen und KunstwissenschaftlerInnen. Seine Forschungen sind heute nicht nur als Vorläufer für die in der Bildwissenschaft untersuchten Prozesse von Interesse, sondern auch weil er mit dem Mnemosyne-Bilderatlas ein System aufgebaut hat, das modellhaft, fachübergreifend und in seiner ganzen Vielschichtigkeit den Weg der Bilder in unterschiedlichen historischen Zeiten und Kulturen nachzeichnet. Warburgs Mnemosyne-Bilderatlas – in seiner Komplexität eine Art bildhistorische Vielzweckwaffe – ist ein Instrument, das nicht nur entschlüsselt sondern auch angewandt werden kann. Dazu sind Veranstaltungen mit Vorträgen, Erläuterungen und »Bilderfahrten« vor den einzelnen Tafeln der erste Schritt. Ziel der Ausstellung im ZKM ist es, dieses Instrument der internationalen Forschungsgemeinde zur Verfügung zu stellen, ihren Kenntnisstand mit dem des Atlas zu konfrontieren und dessen mannigfachen Möglichkeiten zu erproben.
Kuratoren: Roberto Ohrt und Axel Heil. Konzeption in Zusammenarbeit mit Christian Rothmaler und Philipp Schwalb. Beitrag zur »Sprengung der Burgundischen Larve« von Regine Steenbock.
- ZKM | Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe
Lorenzstraße 19, 76135 Karlsruhe - Öffnungszeiten: ZKM_Lichthof 1+2 sowie 8+9
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